
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: Gedächtnis im Bus
Hunderte Menschen haben im „Jahrhundertbus“ ihre Geschichte erzählt. Nun macht er in Potsdam an der Villa Schöningen Station
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Berliner Vorstadt - Mit jedem Menschen, der stirbt, geht eine ganze Bibliothek persönlicher Erlebnisse, Gefühle und Gedanken verloren. All das – Dinge, die in keinem Geschichtsbuch der Welt nachzulesen sind – ist nach dem Tod eines Menschen unwiederbringlich. Um die Vergänglichkeit der Geschichte jedoch für nachfolgende Generationen zu bewahren, hat sich der Verein „Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation“ der Idee verschrieben, die deutsch-deutsche Geschichte durch die individuellen Geschichten der Menschen zu erhalten. Seit dem gestrigen Sonntag macht der „Jahrhundertbus“ Halt in Potsdam und fängt zum Thema „Leben mit und nach der Mauer“ die Geschichten der Menschen ein. Ort: Die Villa Schöningen an der geschichtsträchtigen Glienicker Brücke.
Sich zu öffnen und vor laufender Kamera seine ganz persönliche Geschichte zu erzählen, sei gar nicht so einfach, meinte Wilfried Seiring aus Schönwalde im Havelland, der am Sonntag als erster für das eineinhalbstündige Interview in den zu einem Aufnahmestudio umgebauten Bus trat. „Auf der einen Seite ist es beklemmend, wenn man über eine Phase sprechen soll, die von Unsicherheit geprägt war, auf der anderen Seite ist es aber auch schön, sich zurückzuerinnern“, so der 79-Jährige, der in seinem Leben beides erlebt hat. Die Unsicherheiten, die er als DDR-Flüchtling in seiner ersten Zeit in Westberlin durchlitten hat und die Glücksgefühle, die er beim Mauerfall 1989 erlebte. „Man kann sich das kaum vorstellen, aber das war der schönste Tag meines Lebens“, erzählte Seiring. Und so geht es aus einer ganz persönlichen Sichtweise durch annähernd acht Lebensjahrzehnte eines Menschen, von seinem Studium in Greifswald über seine Flucht in den Westen bis hin zu seiner Stelle als Leiter des Landesschulamtes in Berlin – all das wird mit der Kamera festgehalten.
„Manche erzählen ihre Geschichte bei uns zum ersten Mal“, erklärt Ronald Urbanczyk, Aufnahmeleiter im Projekt „Jahrhundertbus“. Seit dem Projektbeginn 2011 ist Urbanczyk bei jeder Tour dabei gewesen. „Dadurch lernt man die Menschen und die unterschiedlichen Städte ganz neu kennen“, erzählt er seine Erfahrungen aus über 600 Interviews. Die Situation, in der er sich als Interviewer mit seinem Zeitzeugen befindet, sei ganz speziell und von Mensch zu Mensch verschieden. „Sie öffnen sich uns schließlich vollkommen“, so Urbanczyk. Von großen Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt bis hin zum Nachbarn von nebenan: In der Zeitzeugendatenbank, für die die Interviews aufbereitet werden, finden sich viele Gesichter. Diese Unterschiedlichkeit mache auch das Projekt aus, meint Urbanczyk. Bedeutende historische Ereignisse würden mit den ganzen persönlichen Erfahrungen der vielen verschiedenen Menschen aus einer völlig neuen Perspektive erzählt. „Genau dieser Punkt macht die Authentizität der Geschichte aus“, meinte Wilfried Seiring, der seine eigene Geschichte für die kommenden Generationen erhalten wollte. „Es geht schließlich darum, dass diejenigen, die es nicht miterlebt haben, trotzdem erfahren, wie es wirklich war“, meint er. Sonst gehe ein Stück Geschichte verloren.
Auch Steffen Reiche erzählte am Sonntag aus seinem Leben. Der SPD-Politiker war lange Jahre Landesminister – erst für Wissenschaft und später für Bildung und Sport – und Bundestagsabgeordneter. Die Zeit der DDR war für den 1960 in Babelsberg geborenen evangelischen Theologen nicht einfach. Über seine Mitgliedschaft in der Jungen Gemeinde war man an seiner Schule gar nicht erfreut. Dank der Intervention eines Lehrers durfte er später dennoch sein Abitur machen, erzählte Reiche. Danach habe er sich gegen ein Regiestudium an der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen entschieden, weil er sich nicht den restriktiven Vorgaben der SED-Kulturpolitik beugen wollte. „Ich habe das bis heute nicht bereut“, sagte Reiche. Chantal Willers (mit mar)
Chantal Willers (mit mar)
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