Landeshauptstadt: Geologie am Gasometer
Markus Böhm malt Magnetfeld-Linien auf den Speicher, der zum Theater-Neubau an der Schiffbauergasse gehört
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Sie sehen aus, als bildeten sie ein bedeutungsfreies Phantasiemuster. Die roten Zeichen, die Markus Böhm auf den Gasometer des Hans Otto Theaters an der Schiffbauergasse malt, stellen aber etwas Konkretes dar. Mehr noch, die Gebilde haben ihren Ursprung nicht im Künstlerischen – sondern im Physikalischen. Sie stellen das Erdmagnetfeld der Erde dar. Seit Mitte Mai arbeitet der Sohn Gottfried Böhms, des Architekten des neuen Theaters in der Berliner Vorstadt, auf seinem Baugerüst. Seine Arbeitsgeräte sind Pinsel, rote Farbe und Klebeband, mit dem er die Konturen des Erdmagnetfeldes auf den Stahl des ehemaligen Gasspeichers aufklebt. Eine Rolle Klebeband trägt er wie Schmuck am Handgelenk, als er gestern bei einer Tasse Capuccino auf dem Restaurantschiff „John Barnett“ darüber spricht, wie es ist, Sohn des berühmten Architekten und Pritzker-Preisträgers zu sein – und vielleicht nur deshalb am Theaterneubau malen zu dürfen?
„Ich habe bisher nicht geschafft, anders an Aufträge zu bekommen“, sagt Böhm mit entwaffnender Offenheit. Seine Werke seien zudem sehr speziell und extrem mit der Architektur seines Vaters abgestimmt. In der Tat: Böhm junior nimmt, wie er zeigt, die durch die Etagen des Theater-Verwaltungsgebäudes entstehenden Linien in seiner Bemalung auf. Theater und Gasometer sollen einen Komplex ergeben, „eine Gesamt-Skulptur“. Er und sein Vater arbeiteten seit Jahren zusammen. So gestaltete Markus Böhm Wände und Decken zweier Schwesterhäuser des Behring-Krankenhauses in Berlin-Zehlendorf mit einer an Blumen erinnernden Großmalerei auf hellblauem Hintergrund. Der Architekt ist Gottfried Böhm. Sohn Markus Böhm kann es sich nicht vorstellen, „wie es ohne meinen Vater weitergehen soll“. Seine blauen Augen scheinen über den Tiefen See hinweg den Horizont zu suchen. Böhm senior ist 86 Jahre alt, er 53. Aber natürlich sei zwischen dem Architekten und seinem Künstler-Sohn „auch nicht immer alles in Butter“.
Von wegen Künstler, eigentlich ist Markus Böhm Informatiker und Geologe. Daher auch das Erdmagnetfeld als Motiv. Es ist aber nicht so, dass ihn nur die Schönheit der von der Erde ausgehenden magnetischen Felder fasziniert, sondern deren Entstehung. Diese ist bis dato nicht einwandfrei geklärt. Es gibt mehrere Theorien dazu – und eine stammt von Markus Böhm. Freilich ist es die unbekannteste von allen, denn bei den etablierten Geologen-Kollegen gehen „die Rollläden runter“, wenn Böhm der Dynamo-Theorie oder der Gezeitentheorie seine eigene „Kugellager-Theorie“ gegenüberstellt.
Demnach bewegt sich der innere Erdkern, eine kristalline Eisenkugel, langsam im flüssigen Erdmantel dahin. Böhm stellt sich vor, dass sich zwischen Mantel und Kern dünne Schichten von der Breite eines Atoms befinden, ähnlich wie ein Schmierfettfilm zwischen Achse und Nabe. Und weiter: „Einzelne Atome, insgesamt aber doch viele, vor allem die größeren, geraten dabei ins Rollen, wie Kugeln eines Kugellagers, eines mehrlagigen Kugellagers mit sehr vielen Lagen, alle Kugeln im gleichen Drehsinn und mit parallelen Rotationsachsen. Die Elektronenhüllen dieser rotierenden Atome bilden somit Kreisströme, erzeugen Magnetfelder, und wie bei einem Eisenmagneten baut sich das Magnetfeld der Erde aus diesen elementaren Magnetfeldern auf.“ Böhm, der in Österreich wohnt, schreibt auf seiner Internetseite www.erdmagnetfeld.at, seine Theorie sei so einfach, dass er kaum glauben mochte, dass noch niemand darauf gekommen ist. Seine Theorie in der Natur zu überprüfen ist schwierig, da keine Bohrung bis zum Erdkern gelangen kann. Aber man könne versuchen, den Nachweis in einem Experiement zu erbringen, was aber schon wegen des flüssigen Eisens zum Nachstellen des Erdmantels sehr teuer wäre. Würde die Kugellager-Theorie bestätigt, könnte er sich endlich mit etwas anderem beschäftigen, sagt er. Sein Vater meine, er solle dran bleiben.
So setzt sich Böhm künstlerisch mit seiner Idee auseinander. Das Erdmagnetfeld am Gasspeicher ist zu drei Vierteln fertig. Interessant ist ein Detail: Böhm hat mit einem kleinen Pfeil die Richtung zum Polarstern auf den Gasometer gemalt. Die Erdrotationsachse zeige genau auf den Polarstern. Die magnetische Achse sei dagegen zur Rotationsachse leicht gekippt. Doch beide, Magnetfeld und Polarstern, hätten etwas gemeinsam: Sie dienten den Menschen zur „Orientierung und Führung“ – Begriffe, die Böhm während des Malens an der Schiffbauergasse mit Preußen assoziierte, in dessen altem Zentrum Potsdam er sich ja befinde.
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