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Landeshauptstadt: Gespenstische Stille zwischen Zentrum Ost und Babelsberg

Um 13.30 Uhr entschärfte Manuel Kunzendorf die 250-Kilo-Bombe. Vorher hatten 11 800 Bewohner das Sperrgebiet verlassen müssen – 200 Stadtverwaltungs-Mitarbeiter klingelten die Potsdamer heraus

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An seinem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub musste Manuel Kunzendorf noch einmal alles geben. 50 Minuten dauert es, bis er den mechanischen Messingzünder aus der britischen Fliegerbombe entfernt hat. Danach ist die grüne Polizeiuniform des Bombenentschärfers durchgeschwitzt. Das liegt nicht nur an der sengenden Mittagssonne auf der Baustelle in der Lotte-Pulewka-Straße, wo der Sprengkörper aus dem Zweiten Weltkrieg liegt, sondern auch daran, dass Kunzendorf mit höchster Anspannung gearbeitet hat: „Stellen Sie sich vor, Sie wickeln ein Gummi um einen Bleistift und dann ziehen sie den Bleistift heraus – ohne an dem Gummi zu reiben“, erklärt der erste Mann vom brandenburgischen Kampfmittelbeseitigungsdienst seine Arbeit.

Als Kunzendorf gegen 13.30 Uhr die Bombe dann entschärft hatte, habe er gleich seine Frau angerufen, um ihr zu sagen, dass er noch lebe. Denn einen Fehler hätte seinen Tod bedeuten können: Die 250-Kilo-Bombe wäre mit 700 Metern pro Sekunde detoniert, die Druckwelle hätte in einem Umkreis von 50 Metern „alles rasiert“, so Kunzendorf. Die Splitter wären bis zu 1200 Meter weit geflogen und hätten „große Schäden“ anrichten können.

Aus diesem Grund ist es zwischen den Plattenbauten im Zentrum Ost am Vormittag gespenstisch still: Die Kinderspielplätze verwaist, die Straßen leer. Selbst das „Achtung, Achtung!“ der Polizei ertönt schon kurz vor 10 Uhr nicht mehr. Lediglich die Trupps der Potsdamer Stadtverwaltung sind jetzt noch unterwegs. Seit 7 Uhr morgens klingeln und klopfen rund 200 Mitarbeiter der Kommune an jede Tür in dem Wohngebiet Zentrum Ost. Menschen in Schlafanzügen, mit Seifenschaum an den Händen oder Zahnbürsten im Mund öffnen. Die meisten wissen bereits Bescheid, haben Zeitung gelesen oder Radio gehört. Und viele haben die Hinweis-Zettel gesehen, die die Ordnungskräfte der Stadt noch am Vortag in fast alle betroffenen Hausflure gehängt hatten – kurz nachdem Kunzendorf, der heute in die Ferien fährt, entschieden hatte, dass die Bombe möglichst bald entschärft werden müsste. „Da konnte ja jeder ran, sollte ich die liegen lassen?“, erklärt Kunzendorf die Eile: Ein Baggerfahrer hatte auf der Baustelle der Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) nahe des Potsdamer Hauptbahnhofs den gefährlichen Fund aus der Erde gehoben und ihn auf eine Betonplatte gelegt, ein privater Sicherheitsdienst bewachte ihn in der Nacht zu gestern. Der Bombenentschärfer selbst hatte die Sperrzone in 1,5-Kilometer-Radius um den Bombenfundgebiet festgelegt. Im Sperrgebiet liegen Zentrum Ost und Teile von Babelsberg.

Das Gebiet haben die meisten der 11 800 betroffenen Menschen auch ohne Murren verlassen. Mütter mit Wickeltaschen und Plastiktüten voll Spielzeug bringen ihre Kinder schnell zu Oma und Opa, denn auch die Kindergärten im Sperrbezirk müssen geschlossen bleiben. Andere fahren einfach zur Arbeit, so fern ihre Büros oder Werkstätten nicht auch im Sperrgebiet liegen. Manche radeln an den See, zum Schrebergarten oder gehen während der Entschärfung spazieren.

Die rund 100 alte, kranke oder behinderte Anwohner werden dagegen von den rund 24 Feuerwehrleuten zu den beiden Notunterkünften Bürgerhaus am Schlaatz und Altes Rathaus gebracht. Einige von ihnen hatten sich bereits Donnerstagabend dafür angemeldet. Doch viele Transporte mussten die Ordnungshüter der Stadt gestern Morgen spontan organisieren. Immer wieder müssen die zwölf Wagen der Feuerwehr und des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) anrücken, um vorwiegend ältere Damen aus der Gefahrenzone zu bringen. So verzögert sich die Evakuierung um über zwei Stunden. Eigentlich sollte das gesamte Gebiet bereits um 10 Uhr menschenleer sein, doch noch immer sitzen einzelne Personen in ihren Wohnungen fest. Zumal sich einige Bewohner weigern, ihre Wohnung zu verlassen und die Polizei eingreifen muss: „Mich kriegt ihr hier nur mit Gewalt raus“, sagt eine alte Frau: Sie habe den ganzen „Kladderadatsch“ damals selbst erlebt. Erst Winfried Köhling, der Hausmeister des Blocks mit fast 1000 Mietern, der den Ordnungsamtsmitarbeitern zu Hilfe gekommen ist, kann sie überreden zu gehen. Viele seiner Bewohnerinnen, sagt Köhling, erinnere die Evakuierung an die Bombennacht vom April 1945 – der Ursache der größten Evakuierung der Stadt in der Nachkriegszeit.

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