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Landeshauptstadt: Große und kleine Premieren

Nur noch drei Tage bis zur Eröffnung: Fünf Premieren stehen bevor. Die Aufregung im Hans Otto Theater steigt

Stand:

Sie kommt nicht mehr heraus. Die tomatenroten Beton-Wände umgeben Irmtraud Röhrig-Schöps Tag und Nacht, ununterbrochen. Nicht einmal wenn die Chefinspizientin spät Abends erschöpft nach Hause geht, lässt das Theater sie in Ruhe. Es bestimme sogar ihre Träume und die Albträume, sagt sie.

Um die fünf Premieren zur Eröffnung des Neubaus an der Schiffbauergasse drehen sich ihre Gedanken schon morgens um 10.30 Uhr, wenn sie auf der Kantinen-Terrasse einen schnellen Cappuccino trinkt – den glitzernden Tiefen See im Rücken. Vor ihr am Tisch sitzt der leibhaftige Nathan und kneift die Augen in der Morgensonne zusammen. Günter Junghans spielt den Weisen in dem Lessingstück, zu dem gleich die erste Arbeitsprobe beginnt. Röhrig-Schöps muss dann dafür sorgen, dass das Drumherum stimmt, Ton, Licht, Bühnenbilder koordinieren. Und so gibt es nur das eine Gesprächsthema: die Nathan-Premiere am 23. September. „Erst danach kommen wir wieder in die Welt zurück, wenn das alles vorbei ist“, beschreibt Junghans seinen Zustand. Übernächtigt sieht er aus. Die letzten Proben beginnen erst um 19 Uhr und enden tief in der Nacht. „Eigentlich bräuchten wir Hängematten hier“, meint der Gastschauspieler. Nur drei Stunden hat er letzte Nacht geschlafen.

Und auch Schauspielerin Javeh Asefdjah gähnt, als sie in der Kantine erscheint. Die junge dunkelhaarige Frau wird in einer Viertelstunde als Recha auf der Bühne stehen. Gegen 11 Uhr ist die Theaterkantine voller Menschen, die alle über dasselbe reden: die sechs Damen und der eine Herr vom Einlass, die ab dem 22. September Gästen wieder die richtigen Sitzreihen zeigen müssen – dann in neuen roten Blusen im neuen roten Haus. Eben haben sie sich das Foyer und die Gänge zum ersten Mal angesehen. Nun testen sie den Kaffee der italienischen Köche Enzo und Vittorio.

Als Intendant und Nathan-Regisseur Uwe Eric Laufenberg den Raum betritt und jedem die Hand schüttelt, ist Regieassistentin Johanna Hasse schon mehrere Kilometer durch das Theater gejoggt. Im Laufschritt – treppauf, treppab. Jetzt hat sie gerade einen dicken Ordner aufgeschlagen und gibt den Ton-Technikern in der Kantine letzte Anweisungen. Kurz nach 11 Uhr ist es dann plötzlich still im Speiseraum: Alle sind an ihren Plätzen auf, vor und hinter Bühne verschwunden.

Auch Irmtraud Röhrig-Schöps. Die kleine Frau mit der graumelierten Stoppelfrisur steht an einem Pult mit vielen bunten Knöpfen und schaut auf die beiden Monitore, die ihr das Geschehen auf der Bühne zeigen: Dort stehen Junghans, Asefdjah, Rahel Ohm alias Daja, Hannes Wegener als Tempelherr und ein Stuhl. Hinter den Vorhängen ist eine Stimme ist zu hören, die zu keinem der Darsteller passt: Laufenberg, der neben Chef-Dramaturgin Anne-Sylvie König unten im Publikumsraum sitzt, erklärt irgendetwas, immer wieder und zwischendurch wird gespielt. Einer taucht ebenfalls nicht auf Röhrig-Schöps Bildschirmen auf, obwohl er auf der Bühne steht: Souffleur Hans-Joachim Kokoscha – eine aufgestellte Sperrholzplatte verdeckt ihn.

Auf das Kommando der Inspizientin blenden die Techniker dann punktgenau Licht auf oder spielen Musik ab. Bei Arbeitsproben allerdings bleiben Scheinwerfer und Lautsprecherboxen aus. Etwas zu tun haben seine Mitarbeiter trotzdem, sagt der Technische Direktor, Karl-Heinz Krämer. Die Techniker müssten die Hauptprobe am Abend vorbereiten. Dann werde der gesamte Nathan durchgespielt – mit Bühnenbild, Kostümen, Lichteffekten und Musik. „Heute Abend wird der Horror, da wird jeder Fehler beschrien“, so Krämer, der viel schimpft in den letzten Tagen vor den Premieren, aber mindestens genauso viel lacht. Irgendwie trifft man ihn ständig auf dem Flur an – immer auf dem Weg zu einer anderen Einsatzstelle. Dabei hat er sich in seinem Büro mit Seeblick längst eingerichtet. Sein „bester Freund“ Keith Richards hängt schon an der Wand. Gerade so passt er zwischen Boden und Decke. Sonst hätte Krämer ein Stück Leinwand abschneiden müssen. Denn das riesige Gemälde des Rolling-Stones-Gitarristen müsse immer dabei sein.

Seit April sind die 184 Theaterangestellten peu à peu an ihren neuen Arbeitsplatz gezogen, 2000 Kartons voll Kostüme, Requisiten und Büromaterial haben sie mit genommen – aus der Blechbüchse am Alten Markt, aus den Werkstätten in der Zimmerstraße und dem Intendanzgebäude nebenan. In der Schiffbauergasse arbeiten alle nun erstmals unter einem Dach – gemeinsam mit den Handwerkern der Baufirmen, die hier und da noch etwas streichen oder schrauben.

Im Treppenhaus rast gerade wieder die Regieassistentin vorbei, nickt kurz Bühnenbildner Kaspar Glarner zu. Der Schweizer hat auch für die Uraufführung der „Julia Timoschenko“ von Maxim Kurotschkin am Sonntag die Kulissen entworfen. Jetzt hat er es eilig, muss einen Stapel Architekturzeichnungen bis Mittag in die Stadtverwaltung bringen. Er braucht eine Sondergenehmigung für die Timoschenko-Vorstellungen. Während dieser sollen nämlich jeweils 120 Zuschauer durch das Haus geführt werden. Denn die Szenen spielen überall im Neubau, erklärt Glarner und ist verschwunden.

In den Werkstätten im Obergeschoss wird unterdessen gehämmert, gemalt, genäht. Im Reich von Gewandmeisterin Antje Kyntschl stapeln sich Stoffballen in verschiedensten Farben. An einer Kleiderstange hängen Bügel mit Schnittmustern aus Pappe. Kyntschl steht an einem riesigen Tisch und blickt kaum von ihrer Arbeit auf: Der Hut des Patriarchen muss noch steifer werden und für einen festeren Halt auf Andreas Herrmanns Kopf wird sie eine Innenkappe einnähen – mit der Hand. Der Leiter der Dekorationsabteilung, Ingo Jesorka, sitzt an der Nähmaschine: Die Tischdecke muss dringend fertig werden. Eine Etage tiefer ruhen sich die Schauspieler von der Probe aus. Das Wort Pause wäre allerdings übertrieben, denn Dramaturgin König bespricht dabei ihre Auftritte. Und selbst als Javeh Asefdjah endlich in der Kantine ihre mitgebrachten Stullen und Tomaten isst, springt sie immer wieder erschreckt auf: „Sind wir eingerufen? Sind wir eingerufen?“, fragt sie ihre Kollegen und guckt auf den Bildschirm, der an der Wand im Speiseraum hängt. Beruhigt, dass die Bühne auf dem Monitor noch immer leer ist, setzt sie sich wieder.

In der Mittagspause wird es langsam auch in den Werkstätten leer, das blau gelbe Wappen für die „Katte“-Aufführung trocknet im Malerraum allein vor sich hin. Künstler und Handwerker stehen bei Enzo und Vittorio nach Nudelauflauf und Schnitzel an. Zum Schnitzel gibt es Kartoffeln – ohne Soße und Gemüse: „Eben italienisch“, resümieren die Kantinengäste. Die beiden Sizilianer kochen hier in der Kantine am See zum ersten Mal deutsch. Aber das Schnitzel schmeckt trotzdem, finden alle.

So erleben die Menschen im neuen Theaterbau in der Schiffbauergasse neben den großen, auch ihre eigenen kleinen Premieren: Die einen beim Kochen, andere haben hier ihr erstes Engagement wie Student Hannes Wegener. Selbst für den alten Schauspielhasen Günter Junghans hat das Werk von Gottfried Böhm etwas Jungfräuliches. Und „entjungfern“ will er mit seinen Kollegen das neue Theater so, dass die Menschen „dran bleiben“.

Juliane Wedemeyer

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