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Landeshauptstadt: Gruppenraum Wald

Vormittags Schulkind, nachmittags Waldling: Pädagogik an frischer Luft in Potsdams erstem Waldhort

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Ein kleiner Kerl mit Zahnlücke stellt sich breitbeinig in den Weg und stemmt die Fäuste in die Hüften: „Durchgang zum Waldspielplatz nur gegen Bezahlung“, sagt der Achtjährige und beäugt die Eindringlinge kritisch. Die „Tageskarte“ kostet wahlweise zehn Eicheln oder eine Kastanie.

In nur wenigen Wochen ist in der Parforceheide neben dem Feuchtgebiet Große Rohrlake, die die Kinder ihrer Verwunschenheit wegen Märchenwiese nennen, ein geheimnisvoller Ort entstanden – gebaut aus Totholz, Baumscheiben, Sisal und Phantasie. Vor zwei Monaten nämlich öffnete er offiziell: Potsdams erster Waldhort. In der Trägerschaft des Independent Living e.V. ist die Schulkinder-Betreuung unter freiem Himmel ein Projekt des Hortes „Feldmäuse“. Sozialpädagoge Gunter Grün und Naturführerin Vera Oostinga beaufsichtigen die Waldlinge. Vier Mal in der Woche geht es nachmittags von der Einrichtung im Kirchsteigfeld mit Fahrrädern in den Wald – auch wenn es regnet oder schneit.

Yannick und Robert markieren mit Holzscheiten einen Kreis. Hier soll ein „Ameisendorf“ entstehen. Aus der sandigen Fläche windet sich ein Getier, das aussieht wie ein Regenwurm. „Quatsch“, verbessert der Hobbyforscher Robert den Unwissenden. „Das ist ein Tausendfüßler.“ In einem Anhänger führt Vera Oostinga neben Wasserkanister, Thermoskanne, Planen, Schnitzwerkzeug und Malsachen eine kleine Bibliothek mit Nachschlagewerken mit. Die Kinder seien inzwischen schon zu kleinen Biologen geworden, erzählt Gunter Grün. Alles, was kreucht, fleucht und wächst werde bestimmt. Für das Waldmagazin „Waldkauz“, dass die Hortkinder selbst schreiben, greifen die talentierten Zeichner zum Stift und malen Tiere ab. Auch, um sie eingehend zu studieren. Bei der Pädagogik im Grünen ginge es um Bewegung an frischer Luft, aber auch um die Vermittlung des Biotops Wald. „Nur, was ich liebe, schütze ich auch“, sagt der Hort-Erzieher und hofft, dass aus „seinen“ Kindern auch ein paar Umweltengagierte hervorgehen. Die meisten der 20 Waldhort-Kinder leben in Potsdams Neubaugebieten und machen in ihrer Freizeit wenig Erfahrungen in der Natur. „Zuhause spiele ich in der Wohnung oder streite mit den Nachbarskindern“, erzählt die achtjährige Madita freimütig. Sie findet den Waldhort toll, weil sie hier in der Hängematte liegen und Wanzen im Lupenbecher betrachten kann.

Im Waldhort gibt es immer freies Spiel und nur wenige Regeln: „Schnitzen nur im Sitzen“ und Schlingen immer so klein, dass eine Hand nicht durchpasst. „Das dient dem Schutz der Kinder“, erklärt Grün. Ein langer Stamm über einen Baumstumpf gelegt ist eine Wippe, ein am Seil hängendes Brett eine Affenschaukel, ein stark verzweigtes Wurzelwerk die Schatzkammer, wo ein Berg Waldfrüchte lagert. Das kleine Waldstück werde schon ganz schön strapaziert, sagt Vera Oostinga. Deshalb funktioniere das Projekt auch nur in enger Ansprache mit dem Revierförster. Bald müsse man sich einen neuen „Gruppenraum“ suchen, damit sich die zerspielte Fläche wieder ein bisschen renaturieren könne. Wir sind zwar der erste Potsdamer Waldhort, sagt Sozialpädagoge Grün. Eine Waldkita in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt gebe es schon eine ganze Weile. Beides erfreue sich große Beliebtheit. „Wir hätten locker zwei Gruppen aufmachen können“, so Grün. Dazu reiche derzeit die personelle Kapazität nicht. Der Waldhort sei eigentlich nur ein Ein-Mann-Unternehmen. Er habe eine volle Stelle, seine Partnerin arbeite ehrenamtlich mit.

Das Waldhorn ertönt. Das Zeichen, sich zu sammeln. Die anderthalb Stunden Waldling-Dasein neigen sich zum Ende. Schnell helfen alle beim Zusammenpacken. Die im Becher gefangenen Wanzen werden wieder frei gelassen, die Seile eingezogen. Dann geht’s per pedales über verwurzelte Waldwege und über die Autobahnbrücke zurück ins Häusermeer. An der Stadtgrenze bremsen plötzlich vier Jungs. Der sandige Feldweg staubt. Schnell wird „Waldgeld“ gerafft – die Hosentaschen sind von Kastanien ausgebeult. Ein Siebenjähriger nutzt den Zwischenstopp zum Pullern am Baum. „Iiihh“, kommentieren die anderen sein Austreten und kichern. Auch das geht so schön nur in der Natur.

Als die radelnde Truppe in die Marie-Hannemann-Straße einbiegt, warten vor dem Hort schon Mütter, Väter und Großeltern, die die Ausflügler abholen wollen. Beim Absteigen vom Rad kullert einem Jungen eine Kastanie auf den Asphalt. In der Stadt hat das Waldgeld keinen Wert mehr.

Nicola Klusemann

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