DICHTER Dran: Herz der Finsternis ganz nah
Ich besitze ein kleines blaues Auto. Als ich es im Internet schätzen ließ, war ich überrascht, was es noch wert war, obwohl es einige Nächte seines Lebens im Freien verbracht hatte.
Stand:
Ich besitze ein kleines blaues Auto. Als ich es im Internet schätzen ließ, war ich überrascht, was es noch wert war, obwohl es einige Nächte seines Lebens im Freien verbracht hatte. Ich hatte meine Verkaufsanzeige kaum bei Autoscout eingestellt, da klingelte das Telefon. Es klingelte ununterbrochen bis in die Nacht, und ich fragte mich, ob die Autohändler, die da anriefen, je schliefen. Die Anrufe verliefen immer gleich. Die Männer fragten zuerst nach der Klimaanlage. Klar, dachte ich, Hochsommer. Die zweite Frage galt einem Schiebedach. Ich wurde misstrauisch. Die Chance, dass ein Kleinwagen ein Schiebedach hat, ist so gering, daß die prominente Stellung der Frage nur bedeuten konnte: Mein Auto sollte in ein heißes Land. Ich musste an meine Reise nach Ägypten denken. In Kairo tobte in den Straßen rund um die Uhr das Leben. Auch zwei Uhr nachts hockten Kinder auf den Dächern der Straßenbahnen. In Potsdam ist elf Uhr abends selbst der Fahrgastraum der Straßenbahnen leer. Mein Auto ist ein tschechisches Fabrikat. Es kennt nur die gemäßigten Klimazonen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es rund um die Uhr durch Kairos verstopfte Straßen fährt. Wie es klingt, wenn der Saharasand unter den Scheibenwischerblättern knirscht. Gab es nicht Unruhen da? Was, wenn sie es in ein Kriegsgebiet schickten? Auf dem Fahrersitz ein Kindersoldat? Selbstmordattentäter im Fond? Am Unterboden eine Bombe? Die Männer wollten es sofort. Sie verlangten es. Sie herrschten mich an, als sei es meine Pflicht, es ihnen gleich morgen früh zu überlassen. Sie gaben mir das Gefühl, mein Auto sei nichts wert, bis dieses Gefühl nicht mehr das Auto betraf, sondern mich. Ich stöpselte das Telefon aus und ging ins Bett. Am nächsten Morgen stellte sich zum ersten Mal einer mit Namen vor. Er gab mir seine Handynummer. Er suchte ein Auto für seine Tochter. Sie brauchte es für die Fahrt zum Studium nach Würzburg. Er war einverstanden, es in zwei Wochen abzuholen. Er hatte keine Lust mehr, bei Autohändlern zu suchen. Sie gaben ihm das Gefühl, er sei es nicht wert, dass sie mit ihm redeten, wenn er das Verlangte nicht zahlen wolle. Ich zuckte kurz zusammen. Dann habe ich es ihm verkauft. Der Preis war nicht mehr so wichtig.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Im August erscheint ihr neuer Roman „Sturz der Tage in die Nacht“.
Antje Rávic Strubel
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