Landeshauptstadt: „Hier ist das Bürgerkomitee – öffnen Sie!“
Vor 18 Jahren wurden auch in Potsdam die Dienststellen der Staatssicherheit besetzt
Stand:
Am Abend des 5. Dezember 1989 klopfte es kräftig an der verschlossenen Tür des Stasi-Untersuchungsgefängnisses Lindenstraße 54/55: „Wir kommen vom Bürgerkomitee – öffnen Sie!“ Nach einigem Zögern entriegelte der Dienststellenleiter die Tür. Gisela Rüdiger, heute Leiterin der Außenstelle für die Stasiunterlagen, war damals dabei. Sie erinnert sich, dass die Frauen der Gruppe im Frauentrakt nach Häftlingen suchten, die Männer im Männertrakt. Sie fanden aber nur wenige Personen, die nach Auskunft der Wächter „Autoschieber“ und andere Kriminelle, also keine politischen Häftlinge waren. Wenige Tage später war das Gefängnis völlig leer. Bereits am Nachmittag des 5. Dezember hatte das vom Neuen Forum gebildete Komitee gegen den Widerstand des letzten SED-Oberbürgermeisters Manfred Bille die Stasizentrale in der Hegelallee besetzt, um die Aktenvernichtung zu stoppen.
Dieser Tag markiert also das „Ende des Unterdrückungsapparates“ der Staatssicherheit auch in Potsdam. Deshalb wurde er gestern in der heutigen Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 durch deren Fördergemeinschaft und die Außenstelle für die Stasi-Unterlagen begangen. Die Besetzung der Stasidienststellen war für die Bürgerrechtler mit einem hohen Risiko verbunden, wies Gisela Rüdiger an Akten nach. Nach der ersten Demonstration am 7. Oktober, bei der 103 Personen festgenommen worden waren, hatte SED-Bezirkschef Günter Jahn angedroht, dass „unsere Hand“ bei der Niederschlagung „konterrevolutionärer Aktivitäten nicht zittern“ werde. Dabei würdigte er vor allem das „besonnene und entschlossene Handeln“ des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung, Heinz Vietze. In einer Dienstanweisung vom 30.10. 1989 legitimierte die Stasi bei „unmittelbarem Eindringen in unsere Objekte“ den Schusswaffeneinsatz.
Die Gedenkveranstaltung hatte gestern Nachmittag mit einer Führung durch das ehemalige Untersuchungsgefängnis begonnen. Wie die Historikerin Gabriele Schnell informierte, hat die Staatssicherheit dort von 1952 - 1989 mehr als 7000 politische Gefangene eingekerkert. Die Zahl der Häftlinge, die zuvor der Sowjetische Geheimdienst hier eingesperrt und gefoltert hatte, ist bis heute nicht genau bekannt. Beider Opfergruppen wird in der Anfang des Jahres eröffneten Dauerausstellung gedacht. Ausgebaut werden soll numehr noch die Darstellung der NS-Zeit, als das Haus „Erbgesundheitsgericht“ war und ab 1943 dem berüchtigten Volksgerichtshof diente. Damit wird es in Potsdam zu einer zentralen Gedenkstätte der Opfer politischer Gewalt im 20. Jahrhundert. Schon jetzt kommen jährlich etwa 12 000 Besucher.
Gestern las Jochen Stern aus Dokumenten der Staatssicherheit, die die Ereignisse des Jahres 1989 aus der Sicht des Unterdrückungsapparates verdeutlichen. Der aus Frankfurt (Oder) stammende 79-Jährige hatte bereits im Jahr 1947 nach der Festnahme durch den sowjetischen Geheimdienst die unmenschlichen Haftbedingungen in der Potsdamer Lindenstraße kennen gelernt. Seit der Wiedervereinigung widmet er sich der Aufarbeitung der politischen Geschichte der DDR. Erhart Hohenstein
Erhart Hohenstein
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: