Landeshauptstadt: Hilf mir, es selbst zu tun
Wie Montessori-Schüler Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen und dafür vielleicht bald einen Preis bekommen
Stand:
Der Countdown läuft. Die Potsdamer Montessori-Oberschule zählt die Tage bis zur Verleihung des Deutschen Schulpreises. Aus 170 Bewerbern hat sie es bis in die Endrunde des bundesweiten Wettbewerbes von Bosch- und Heidehof Stiftung geschafft und gehört schon jetzt zu den zehn besten Schulen des Landes. Am kommenden Montag werden im Hauptstadtstudio des ZDF die Ersten Preise verliehen. Während Schulleiterin Ulrike Kegler mit einigen Schülern, Lehrern und Eltern vor Ort der Entscheidung entgegenfiebert, verfolgen die Daheimgebliebenen die Live-Übertragung im Fernsehen.
Wie auch immer es ausgeht – sie werden feiern. Vor allem den eigenen Mut, als staatliche Schule mit der Pädagogik der Erziehungsreformerin Maria Montessori einen besonderen Weg gegangen zu sein. Leicht war das nicht. Wie viele Zweifel standen am Beginn? Kann das denn funktionieren: eine Schule ohne Frontalunterricht, ohne Stundenklingel, ohne Jahrgangsklassen und Zensuren? Wie und woran sollen sich die Kinder orientieren? Lernen sie auch genug, wenn sie selbst bestimmen können, wann sie sich welches Wissen aneignen?
Es funktioniert, vorausgesetzt Eltern und Lehrer vertrauen darin, dass Kinder grundsätzlich lernen und die Welt um sich herum verstehen wollen. Dieses jedem Kind innewohnende Interesse nicht zu ersticken, nicht durch vorgeschriebene Erkenntniswege einzuengen und im rigiden Notensystem zu erdrücken, ist Anliegen der Montessori-Pädagogen.
„Hilf mir, es selbst zu tun“, dürfen die Mädchen und Jungen täglich von ihren Lehrern fordern. Willi zum Beispiel, mit fünf Jahren einer der Jüngsten in der altersdurchmischten „Klasse“ von Corinna Spikermann, möchte lesen lernen. Auf dem Boden kniend lässt er sich von der Lehrerin erklären, wie er mit Hilfe von Bildern Buchstaben erkennen und zu Worten zusammensetzen kann. Gleich neben ihm knobeln die neunjährigen Jungen Anton und Giliano im Schneidersitz an einer komplizierten Textaufgabe. Das Ergebnis auf der Rückseite ihrer Arbeitsfolie haben sie schon ausspioniert. Es nützt ihnen nur nichts, wenn sie nicht einen Lösungsweg dazu finden. Während Willi aus einem Ohr, einem Pilz und einem Apfel das Wort Opa bastelt, setzt sich Corinna Spikermann zu den beiden Jungen und zeigt ihnen, wie sie sich mit Zehner- und Einerchips aus einem Rechenkasten die Sachaufgabe verbildlichen können. Die typischen Montessori-Materialien sind so variabel, dass sie verschiedene Lösungswege ermöglichen. Wichtig dabei ist, den Gedankengang zu beschreiben, Fehler zu erkennen und zu diskutieren. Die Lehrerin beobachtet den individuellen Lernfortschritt der Jungen und wird ihn am Ende der mehrstündigen Freiarbeit in ein Buch notieren. So weiß sie, wann sie ihnen die nächst höhere Herausforderung empfehlen kann. Die täglichen Notizen über jeden Schüler gestatten es ihr, jederzeit eine ausführliche, stets unterstützende Bewertung in Worte zu fassen, die die Leistung an den Fähigkeiten des jeweiligen Kindes messen, niemals an Mitschülern oder einem altersdefinierten Forderungskatalog.
Dass jeder Mensch seinen eigenen Rhythmus entwickelt und auf verschiedene Weise Wissen aneignet, das haben die Montessori-Pädagogen am nachdrücklichsten von ihren Schülern mit Handicap gelernt, die hier ganz selbstverständlich integriert werden. Franz zum Beispiel, ein Kind mit Down-Syndrom, schaut zu, was Willi mit den Buchstaben anstellt. Dann spaziert er zu den größeren Mädchen, die am Tisch Geschichten schreiben, um schließlich am Computer zu malen. Als er bei der Auswahl der Farbe nicht weiter kommt, zeigen ihm die Mädchen, wie es funktioniert. Das alles geschieht im Flüsterton, rücksichtsvoll und freundlich. Keinen Moment hat die Lehrerin hier eingreifen müssen. Wie Geschwister lernen die Fünf- bis Neunjährigen voneinander.
Die vorgegebenen Rahmenpläne werden dabei zu Lern-Plänen, die jedes Kind mit Hilfe der Lehrer selbst entwickelt, erfüllt und kontrolliert und so frühzeitig Verantwortung für das eigene Lernen übernimmt. Die zwölfjährige Fiona, die in der Gruppe der Viert- bis Sechstklässler lernt, übt gerade schwierige Wörter eines Diktats, die sie illustriert, um sie sich besser einzuprägen. Danach will sie sich der Bruchrechnung zuwenden. In einer Präsentation von Mitschülern hatte sie ihre Wissenslücken bemerkt, die sie nun schließen möchte. Zur Selbstkontrolle notiert sie alles, was sie in der Freiarbeit geschafft hat, in das so genannte Brückenheft, in das auch die Lehrerin ihre Beobachtungen schreibt. So können die Eltern die Lernfortschritte ihres Kindes genau nachvollziehen.
Für Lehrerin Eva Poppe-Rossberg bedeutet die ständige individuelle Betreuung und Bewertung mehr Arbeit, die sie aber als angenehm, intensiv und befriedigend empfindet. Sie genießt es, nicht referierend und kontrollierend an der Tafel zu stehen, sondern sich mit jedem Kind auf Augenhöhe zu begeben. Und dafür setzt sie sich auch gern mal auf den Boden.
Fiona übrigens muss sich bald entscheiden, ob sie nach der 6. Klasse ans Gymnasium wechselt. Sie kann sich dafür ein Zensurenzeugnis ausstellen lassen. So richtig aber mag sie sich nicht trennen von ihrer Schule, in der sie sich wohlfühlt, ganz ohne Stress und Zensurendruck, die sie zum Lernen nicht brauchen kann.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: