Landeshauptstadt: Hilfe holen ist uncool
Die Sozialtherapeuten Christine Kernich und Annelie Dunand beobachten eine Entgrenzung von Gewalt
Stand:
Gewalt an Schulen hat neue Formen angenommen. Jüngste Ereignisse, wie die an der Potsdamer Goethe-Gesamtschule, wo Schüler einen Gashahn öffneten und niemand sich traute, die Namen der Übeltäter zu nennen, deuten auf ein Klima permanenter Angst und Einschüchterung hin. Ist dies ein Einzelfall, oder zeichnet sich hier eine Tendenz ab?
Annelie Dunand: Wir beobachten seit einiger Zeit eine zunehmende Verrohung, eine Entgrenzung von Gewalt und einen Mangel an Mitgefühl. Liegt jemand am Boden, wird noch einmal nachgetreten. Schwächere Mitschüler werden systematisch gedemütigt oder auch „gedisst“, einer besonders perfiden Form des Mobbings, die das Opfer auch noch öffentlich vorführt.
Öffentlich – das bedeutet häufig auch im Internet.
Christine Kernich: Der Gebrauch von Internet und Handy verstärkt alle Formen bisheriger Gewalt. Wer über jemanden herziehen, ihn beleidigen und demütigen will, der tut dies heute in einem Portal im Internet. Alle Mitschüler wissen Bescheid, nur die Eltern und Lehrer nicht. Derjenige, der das Portal eröffnet hat, bleibt zumeist im Hintergrund und kann so später behaupten, er habe gar nichts gemacht.
Das heißt, irgendwann kommt die Sache doch ans Licht?
Dunand: Leider erst, wenn das Opfer schweren Schaden genommen hat, zum Beispiel durch das sogenannte Handy Slapping. Hierbei werden die Betroffenen, während sie geschlagen oder sexuell missbraucht werden, auch noch gefilmt. Anschließend werden die Bilder über Handy und Internet verbreitet und dann auch für die entsetzten Eltern sichtbar. Es ist schon vorgekommen, dass wir für ein Kind eine neue Schule suchen mussten, weil es nach dem Handy Slapping nicht mehr in seiner gewohnten Umgebung lernen wollte und konnte.
Wenn aber die Mitschüler in der Regel frühzeitig Bescheid wissen, warum hilft dann niemand dem Opfer?
Dunand: Weil es unter vielen Heranwachsenden heute nichts Schlimmeres gibt, als ein Opfer zu sein. Das ist regelrecht zum Schmähwort geworden. Wer sich mit einem Schwächeren solidarisiert, gilt selbst als schwach und läuft Gefahr, ebenfalls diskriminiert zu werden.
Wer sich nicht traut, offen einem gequälten Mitschüler beizustehen, der könnte doch aber Erwachsene um Hilfe bitten.
Kernich: Auch das gilt leider inzwischen als uncool. Viele Kinder und Jugendliche haben es gar nicht gelernt, um Hilfe zu bitten und sich Erwachsenen anzuvertrauen. Wir erleben häufig in der Gewaltprävention in Kindergärten und Grundschulen, dass die Mädchen und Jungen im wahrsten Sinne des Wortes hilflos dastehen, wenn es darum geht, Hilfe zu rufen. Manche setzen das mit Petzerei gleich. Andere wollen keine Schwäche zeigen, denn wer Hilfe holt, gesteht die eigene Ohnmacht ein.
Dabei könnte es doch gerade ein Zeichen von Stärke sein, in einer brenzligen Situation zu wissen, was zu tun ist.
Kernich: Das stimmt. Die Kinder mögen es eigentlich nicht, wenn sie sich so passiv verhalten. Dahinter verbirgt sich ja Unsicherheit, Angst und auch das Gefühl, selbst nichts bewirken zu können. Oft sind sie ganz erleichtert, wenn wir ihnen dann zeigen, was sie tun können.
Warum ist das Hilferufen kein Allgemeingut mehr?
Dunand: Weil die Kommunikation mit Erwachsenen insgesamt eingeschränkt ist. In vielen Familien wird zu wenig gesprochen. Eltern vermeiden Konflikte und so lernen die Kinder nicht, ein Problem zu lösen. Dabei bräuchten sie dringend die Erfahrung, selbst etwas regeln, etwas bewirken zu können. Es fehlt ihnen auch einfach ein Vorbild.
Durch Schweigen und unterlassene Hilfeleistung schützen die Mitschüler die Täter. Ist ihnen das bewusst?
Kernich: Wahrscheinlich nicht. Es mangelt ihnen an Mitleid und Empathiefähigkeit. Mitunter realisieren sie gar nicht, wenn sie auf ihrem Handy eine Gewalttat sehen, dass dies kein Spaß ist. Sie denken, das sei nur gespielt, wie im Fernsehen. Schließlich empfinden sie ja auch das „Dissen“ als ein Spiel, ein Spiel um Macht.
Wer verbirgt sich dahinter? Und was motiviert diese Jugendlichen, mit anderen ihre Machtspiele zu treiben?
Dunand: Die Aggressoren sind in gewisser Weise aus der Gemeinschaft ausgestiegen. Häufig liegen dem heftige Bindungs- und Kommunikationsstörungen in der Familie zugrunde. Sie haben kein Vertrauen, zu niemandem. Oft ist ihnen selbst kein Vertrauen entgegengebracht worden. Wenn sie aber nie Anerkennung bekommen und nicht richtig wahrgenommen werden, reagieren sie mit Rückzug oder versuchen negativ aufzufallen. Macht über andere zu gewinnen, hilft ihnen, sich selbst zu spüren und die verweigerte Aufmerksamkeit einzufordern.
Was können Lehrer, Eltern und Mitschüler tun, wenn ein solches Kind beginnt, andere zu tyrannisieren?
Kernich: Offen darüber reden. Auch mit den Schülern, die von den Machtspielern für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. Dazu braucht es an den Schulen Ansprechpartner und geschützte Räume. Wir bieten an, in solchen Krisenfällen zu helfen und beziehen dann auch die Eltern und gegebenenfalls das Jugendamt mit ein. Die Initiative muss allerdings von den Betroffenen ausgehen. Sie müssen ihr Schweigen brechen.
Und was geschieht mit den Tätern?
Dunand: Bei jüngeren Schülern hilft es, den Konflikt gemeinsam zu lösen und über die Gewaltprävention Schlimmeres zu verhindern. Aggressive Machtspieler im Jugendalter aber sind oft nicht mehr zu beeinflussen. Manche müssen raus aus ihrem Milieu in eine Umgebung, in der sie gefordert werden und lernen, durch positive Dinge aufzufallen. Erst dann besteht die Chance, dass sie sich öffnen und über ihre Probleme sprechen.
Das Gespräch führte
Antje Horn-Conrad
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