zum Hauptinhalt

SAMSTAGScocktail: Hinter Glas

Der Kindergarten, den mein Sohn seit drei Wochen besucht, verfügt über einen Beobachtungsraum. In dieser lang gestreckten Kammer kann man durch Scheiben auf den Spielraum schauen.

Stand:

Der Kindergarten, den mein Sohn seit drei Wochen besucht, verfügt über einen Beobachtungsraum. In dieser lang gestreckten Kammer kann man durch Scheiben auf den Spielraum schauen. Der Beobachter selbst bleibt, während er das Treiben der Kinder verfolgt, unsichtbar, da die Scheiben vom Spielraum aus gesehen Spiegel sind.

Wenn ich komme, sitzt manchmal eine Pädagogikstudentin da und macht sich Notizen, bevor sie wieder hinausgeht und mit einem Kind Pizza bäckt, die schmutzigen Teller abwäscht oder ein Buch vorliest. Ich bleibe zurück und versuche zu ergründen, woran es liegt, dass kein Blut fließt, wenn Vierjährige an einer Werkbank mit einem Fuchsschwanz arbeiten. Weshalb schlägt sich hier (siehe meine letzte Kolumne) niemand den Kopf auf in dem engen Vorraum, in dem wegen des schlechten Wetters ein Klettergerüst aufgestellt wird? Und wieso drehen bei schönem Wetter draußen auf der betonierten Bahn tatsächlich alle Mann wie vorgeschrieben auf den Rollern und Rädern ihre Runden in derselben Richtung (Die Betonung liegt auf tatsächlich)?

Das kleine Becken am Fenster wurde zuerst mit Wasser, am nächsten Tag mit ungekochten Nudeln und am übernächsten mit Sand befüllt. Wischen, Aufsammeln oder Fegen danach schien kein Thema zu sein. Bislang hat die Scheibe nichts vom Geheimnis der Kinder vor mir preisgegeben. Sie wirken glücklich. Sie werden bespielt, eingeladen, angeleitet, begleitet, keinen Moment aus den Augen gelassen. Das amerikanische Kind, so lese ich, werde beständig beguckt. Für erwünschtes Benehmen applaudiere man ihm. Daher produziere es sich, imponiere und lerne das gesellschaftlich akzeptable Verhalten am Beifall der anderen.

Das deutsche Kind lernt vor allem Selbstständigkeit, seine Kämpfe allein zu kämpfen, Entscheidungen zu treffen. Nicht selten rammelt es dann den halben Tag rat- und orientierungslos herum, das deutsche Kind, auf der Suche nach dem, was gerade das Beste für es wäre. Zack, jetzt ist doch ein Baustein durch den Raum geflogen. War das meins? Gleich mal aus dem Beobachtungsraum raus und vorsichtshalber ein böses Gesicht gemacht. Statt warnender, ermahnender oder ungehaltener Rufe bloß irritierte Blicke, die mir gelten. Was wollen Sie?, sagt die Erzieherin und zuckt die Schultern, he’s being a four years old!

Unsere Autorin lebt in Potsdam und hält sich derzeit als „writer in residence“ in Ohio auf. Zuletzt erschien ihr Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.

Julia Schoch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })