Landeshauptstadt: „Hochbegabte muss man nicht anders behandeln“
Der Potsdamer Psychologe Günter Esser empfiehlt Eltern, den Sozialkontakt ihrer Kinder zu fördern
Stand:
Herr Esser, wann ist ein Kind hochbegabt?
Es gibt die künstliche Grenze eines Intelligenzquotienten von 130. Hat ein Kind diesen oder einen höheren IQ, wird es als hochbegabt bezeichnet. Aber ich halte diesen Begriff für nicht weiterführend. Die meisten assoziieren mit Hochbegabung Einstein und erstarren vor Ehrfurcht. Dabei sitzt statistisch gesehen in jeder zweiten Klasse ein Kind mit einer weit überdurchschnittlichen Intelligenz.
Wie stellen Sie Hochbegabung fest?
Per Intelligenztest kann man verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten testen. Sprachlich schlussfolgerndes Denken ist beispielsweise ein Aspekt. Was haben etwa ein Thermometer und ein Tacho gemeinsam? Aber auch nonverbale Abstraktion wird getestet, in Form von Mustern, die richtig erkannt werden müssen.
Das geht doch bestimmt erst ab einem gewissen Alter?
Das funktioniert auch schon bei jüngeren Kindern. Man kann jede Aufgabe stark vereinfachen. Die Messungen im Vorschulalter sind aber unsicherer und der Wert kann sich in den nächsten fünf Jahren wieder verändern.
Warum kommen Eltern mit ihren Kindern zu Ihnen ins Institut?
Zunächst einmal: Wir sind keine Beratungsstelle für Hochbegabte. Wir bieten aber eine sehr gute Diagnostik, das wissen viele. Manchmal spielt auch die Eitelkeit der Eltern eine Rolle, dass sie ihr Kind testen wollen. Es ist aber eine Mär, dass Hochbegabte anders behandelt werden müssen.
Aber genau das wird immer behauptet.
In den vergangenen Jahren ist ziemlich viel Unsinn verbreitet worden. Inzwischen sagen manche Eltern nach einem Test sogar „Gott sei dank ist es nicht hochbegabt.“ Auch wird oft der falsche Schluss gezogen. Das Kind ist verhaltensauffällig, dann ist es hochbegabt.
Aber andersherum sind doch Verhaltensauffälligkeiten nicht selten eine Folge von Hochbegabung.
Das stimmt nicht. Verhaltensauffälligkeiten sind in der Regel nicht Folge von Hochbegabung, sondern existieren unabhängig davon. Hochbegabung ist eine Ressource und kein Risikofaktor.
Und Sie meinen, dass Hochbegabte keine besondere Förderung benötigen?
Nicht unbedingt. Das Kind muss nicht unbedingt auf eine Hochbegabtenschule. Es muss auch nicht immer die schwersten Aufgaben lösen. Hochbegabte fördern sich selber. Es gibt in der Umgebung genug Anregung.
Dann wären die Leistungs- und Begabtenklassen also überflüssig?
Nein. Im Grunde halte ich die Begabtenförderung des Landes für eine gute Einrichtung. Das Kind bekommt die Chance, anspruchsvolle Leistung zu vollbringen und sich mit Gleichaltrigen weiterzuentwickeln. Aber man weiß aus Studien, dass man auch in einer nicht homogenen Klasse gut lernen kann. Das ist nicht schädlich für die Begabung.
Was muss ein hochbegabtes Kind Ihrer Meinung nach eher lernen als andere Gleichaltrige?
Man muss solchen Kindern beibringen, dass sie sozialverträglich mit ihrer Begabung und ihrem Wissen umgehen. Wenn sie ihre Mitschüler oft verbessern, werden sie schnell als „einer, der alles besser weiß“ abgestempelt und sind demzufolge auch nicht besonders beliebt.
Was würden Sie Eltern und Lehrern in dem Fall raten?
Sozialkontakt zu fördern, ist ganz wichtig. Diese Kinder könnten in der Klasse anderen dabei helfen, Aufgaben zu lösen. Damit macht man sich beliebt und die Kinder lernen sehr viel dabei.
Oft klagen Eltern von besonders begabten Kindern, dass diese in der Schule nicht die nötigen Leistungen erbringen.
Man muss sich fragen, warum das Kind sein Potenzial nicht abrufen kann. Das kann auch Gründe in der familiären Situation haben. Wir betrachten außerdem bei unserer Diagnostik den IQ zusammen mit der Lese-Rechtschreibleistung und den Rechenfähigkeiten. Oft ergeben sich dann Zeichen dafür, dass ein Kind in diesen Gebieten noch nicht so weit ist und man ihm Zeit geben muss.
Woran kann es noch liegen?
Man kann nicht erwarten, dass jeder Mensch sein ganzes Potenzial Zeit seines Lebens ausschöpft. Die Eltern wollen natürlich das Optimum, aber dem Kind ist das vielleicht nicht wichtig. Sie haben einfach keine Lust dazu und sind auch glücklich dabei.Das Interview führt Grit Weirauch
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