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Landeshauptstadt: Hoffen und beten

Nach dem Überfall: Ermyas M. weiter in Lebensgefahr / Ermittlungen laufen / Andacht und Spendenaktion

Stand:

Mit Entsetzen und Fassungslosigkeit, aber auch mit Entschlossenheit und Hilfsbereitschaft haben die Menschen in der Landeshauptstadt gestern auf den brutale Überfall auf den 37-jährigen Potsdamer Ermyas M. reagiert. Sichtbar wurde dies auch am Tatort am Bahnhof Charlottenhof. Dort versammelten sich gestern Nachmittag etwa drei Dutzend Jugendliche, die Blumen niederlegten und Kerzen anzündeten.

Ermyas M. schwebt immer noch in Lebensgefahr. Zwar sei der Zustand des Familienvaters stabil, doch der Potsdamer liegt weiterhin im künstlichen Koma und kann nicht selbstständig atmen, erklärte ärztliche Direktor des Klinikums, Hubertus Wenisch, gestern auf einer Pressekonferenz. Das Klinikum Ernst von Bergmann wollte die Öffentlichkeit über den medizinischen Zustand des Potsdamers informieren – zu dem Termin gestern Mittag drängten sich Journalisten aus der gesamten Republik in den Versammlungsraum im Krankenhaus. Kameramänner und Fotografen richteten ihre Geräte auf die vier Männer im Podium, die mit ernsten Gesichtern vor zehn nebeneinander gereihten Radio- und Fernseh-Mikrofonen saßen: Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs, Wilhelm Kahle, Geschäftsführer des Klinikums, Prof. Dr. Wenisch und Neurochirurg Dr. Uwe Träger, der Ermyas M. am Montagabend operiert hatte.

Die Schädelknochen und Teile des Hirns des Mannes sind verletzt, er hat Blutungen im Kopf. Nachdem M. auf der Intensivstation aufgenommen worden war, hatten ihn die Ärzte in ein künstliches Koma versetzt, damit sein Hirn und Kreislauf ruhen können, erklärte Träger. In dem zweistündigen Eingriff hat der Neurochirurg seinem Patienten zudem ein „handtellergroßes“ Knochenstück aus der Schädeldecke entfernt. So lange, „bis das Hirn sich erholt habe“, werde das Knochenstück eingefroren aufbewahrt, so Träger. Später können es die Ärzte dann wieder einsetzen. Wann es den Medizinern möglich ist, das Knochenstück wieder zu transplantieren und M. aus dem künstlichen Koma zu holen, steht nicht fest. Sicher sei nur, „dass seine Genesung sehr lange dauern kann“, so Klinikums-Direktor Wehnisch. Welche längerfristigen Folgen die Verletzungen haben werden, hänge davon ab, welche Hirnbezirke betroffen sind.

Unterdessen liefen gestern die Ermittlungen der Soko „Charlottenhof“ weiter. Die zwölf Beamten hätten in den vergangenen Tagen im Umfeld des Tatorts nach möglichen Zeugen gesucht, sagte gestern Rudi Sonntag, Sprecher des Potsdamer Polizeipräsidiums. Ein Schwerpunkt der Ermittlungen ist offenbar das Gelände am Alten Hafen am Havelufer. Dort fanden am Samstagabend diverse Osterfeuer statt. Eine Zeugin schilderte gegenüber den PNN die Stimmung dort als „latent aggressiv“. Länger geöffnet war in der Tatnacht die nahe gelegene Diskothek „Art Speicher“, die den Geburtstag ihres Hauses mit günstigen Getränkepreisen feierte. An dem Abend habe es keinerlei Probleme mit Skinheads gegeben, solche kämen gar nicht bei herein, sagte Geschäftsführer Frank Spiesecke auf Anfrage. Polizeisprecher Rudi Sonntag wollte explizite Ermittlungen in beide Richtungen gestern weder bestätigen, noch dementieren.

Hoffnungen setzen die Beamten in die Veröffentlichung des Mitschnitts des Handy-Anrufbeantworters, auf dem Teile des Gespräch zwischen Ermyas M. und den mutmaßlichen späteren Täter zu hören sind. Die Datei ist seit gestern im Internet zu finden. Bis gestern Abend seien einige Dutzende Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, so Sonntag. Es soll drei ernst zu nehmende Spuren geben. Offen blieb gestern, warum weder Fahrgäste noch Fahrer des Nachtbusses N 18, der zur Tatzeit um 4.01 Uhr an der Bus- und Tramhaltestelle Bahnhof Charlottenhof abfahren sollte, nicht eingriffen. Laut dem Geschäftsführer des Potsdamer Verkehrsbetriebes, Martin Weis, werden die Fahrer aus der Tatnacht würden derzeit intern interviewt, die Videomitschnitte in den einzelnen Fahrzeugen seien bereits ohne Ergebnisse ausgewertet worden.

Die Folgen des Überfalls für die Landeshauptstadt waren gestern schon deutlich spürbar. Am Morgen erreichte Oberbürgermeister Jann Jakobs ein Fax des Hausärzteverbands, der erwägt, seinen Jahreskongress in Potsdam abzusagen. Das Image der Stadt habe durch das Verbrechen großen Schaden genommen, der sich auch wirtschaftlich bemerkbar machen werde, glaubt der Oberbürgermeister. Hartmut Pirl, Direktor des Seminaris-Hotels, das während der Fußballweltmeisterschaft Quartier für die ukrainische Nationalmannschaft sein wird, äußerte sich gestern besorgt. Zwar habe bisher keine Rückmeldung aus der Ukraine, doch sieht er die Gefahr, dass die Menschen nun denken: „Hier ist man nicht sicher.“ Dabei hätte sich jeder - egal welcher Hautfarbe – in Potsdam auch im Dunkeln auf der Straße bewegen zu können, ohne Angst zu haben, so Jakobs. Dieses Gefühl sei vorerst zerstört. Daran, es wieder aufzubauen, werde die Stadt lang arbeiten müssen. Wichtig sei zunächst, dass die Täter gestellt werden sowie dass die Potsdamer Mitgefühl mit dem Opfer zeigen und Hilfe organisieren.

Dies tun sie: Fast 100 Anrufe und E-Mails mit Hilfsangeboten gingen gestern im Rathaus ein. Die Bürger hätten vorgeschlagen, ein Benefiz-Fest für das Opfer und seine Familie zu organisieren, und viele wollten Geld spenden, so Jakobs. Auch den Vorschlag, ein Spendenkonto einzurichten, hätte es gegeben. Doch die Stadtverwaltung will zuvor mit der Ehefrau des Opfers besprechen, welche Hilfe genau sie benötige. Möglich wäre es laut Jakobs, dass sie Betreuung für ihre zwei Kinder (6 und 4) benötige, weil sie sich im Krankenhaus bei ihrem Mann aufhalte.

Der Geschäftsführer des Rewe-Marktes in Potsdam-West, Thomas Grube, hat spontan eine Hilfsaktion gestartet. Elf Rewe-Märkte in Potsdam und Umgebung werden ein Prozent ihres Umsatzes in dieser Woche für die Familie des Opfers spenden – zudem ruft Grube die Potsdamer auf, ebenfalls Solidarität zu zeigen. Ein Spendenkonto hat er bereits eingerichtet (siehe Kasten unten), und am Freitag und Sonnabend sollen die Märkte orangene Rosen für einen Spenden-Euro verkaufen – „die Potsdamer sollen sie am Revers tragen, als Zeichen gegen rechte Gewalt“, so Grube.

Die Evangelische Kirche der Stadt lädt heute um 19 Uhr zu einer Fürbitt-Andacht in die Friedenskirche ein – bei dem Gottesdienst sollen die Potsdamer „unabhängig ihres Glaubens und ihrer Konfession“ für Ermyas M. beten.just/HK/jab/DB/SCH

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