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DICHTER Dran: Höhere Mathematik

Es gibt Potsdamer, die meine Kolumne lesen. Es sind genau zwei.

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Es gibt Potsdamer, die meine Kolumne lesen. Es sind genau zwei. Aber von denen weiß ich es sicher. Eine Dame kontaktierte mich nach meinem Ärzte-Artikel auf Suche nach Heilung ihrer Haut. Die andere Dame hat einen Gatten, der ein Boot besitzt. Sie luden mich umgehend ein. Ich hatte im Juli behauptet, Paddeln sei schöner als müßig im Motorboot zu sitzen. Ich glaube, sie wollten die Ehre der Potsdamer Freizeitskipper retten. Wir befuhren ein paar Stunden die Havel, ich durfte ans Steuer, es war sehr schön. Ein Jahr lang kam das Echo auf mein Getippe lediglich von der klappernden Tastatur, und jetzt das! Und wenn man davon ausgeht, dass sich immer höchstens zwanzig Prozent der Menschen zu Wort melden, könnte ich da draußen sogar zehn echte Leser haben. Zwei sitzen auf einem Mahagoni-Boot. Eine sitzt im Wartezimmer einer Heilpraxis. Für die übrigen sieben muss ich mir was ausdenken, aber so ist das, wenn man schreibt. Die Realität erschöpft sich schnell. Es bleibt mir nur die Einbildung. Schön wäre, wenn die beiden Brüder vom Bootshaus an der Nuthe, wo ich mein Kanu ausleihe, im Schatten der Persenning meine Kolumne läsen. Das würde zwei auf einen Streich bedeuten. Auch eine Schriftstellerin muss kaufmännisch denken. Aber sie haben keine Zeit. Ihr Bootsschuppen wurde niedergebrannt. Für 140 Euro, die noch in der Kasse waren, verursachten die Täter hunderttausende Euro Schaden. Das letztemal siebten die Bootsbrüder aus verschmolzenen Resten noch intakte Schrauben aus. Dann vielleicht die Brüder vom Bistro Femo. Einer legt die Weißbrote in den Grill, während der andere am Dönerspieß dreht; sie könnten sich mit Lesen abwechseln. Aber im Bistro liegt die falsche Zeitung aus. Auch mein Haus gehörte zwei Brüdern. Aber sie haben sich zänkisch entzweit. Und für Verbrecher schreibe ich nicht. Bleibt noch einer: Die Buchhändlerin. Die muss das lesen. Allerdings sind jetzt fünf von diesen zehn verreist, wie die freien Parkplätze vor meinem Haus im Durchschnitt beweisen, Buchhändlerin inklusive. Die drei Brüderpaare fallen aus obigen Gründen weg. Bleibt also minus ein Leser für diese Kolumne. So ist das. Die Realität erschöpft auch die Träume.

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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