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Landeshauptstadt: „Ich gehe meinen Weg“

Autismustag im Oberlinhaus mit 320 Teilnehmern

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Babelsberg – Mit großer Offenheit berichtet Martina Reinke (46) über die Behinderung eines ihrer drei Söhne. Benedikt heißt er und ist 15 Jahre alt. „Er bekam Zähne“, erzählt sie, „aber er versuchte nie, Nahrung zu kauen – bis heute“. Und: „Er kann nicht sprechen – nur Kehlkopflaute“. Teilnahmslos und zurückgezogen war der Vierjährige, als ein Arzt ihm eine hundertprozentige Behinderung unter anderem wegen Autismus bescheinigte. „Ich hatte damals keine Ahnung, was ein autistisches Kind ist“, bekennt Reinke, die seit neun Jahren Vorsitzende des brandenburgischen Landesverbandes Autismus ist. Eines von 110 Kindern leidet an dieser Behinderung, bei der es sich um eine Entwicklungsstörung des Gehirns handelt.

Und Benedikt? „Er ist heute ein zufriedener und ausgeglichener junger Mann, der voll in der Pubertät steht“, berichtet die Mutter in einem Vortrag zum dritten Autismustag am Samstag. Sie zeigt Bilder und Videos: Benedikt, der sich ans Sofa schmiegt, der mit einer Kugel oder mit dem Wasserstrahl am Springbrunnen spielt. Eine Berufsausbildung oder eine Ausbildungsvorbereitung wie die derzeit 52 Autisten im Berufsbildungswerk der Oberlinhaus gGmbH in der Steinstraße, wo der Autismustag stattfand, wird er nicht leisten können. Die nächsten Jahre werde er außer zu Hause weiter in einer staatlich anerkannten Ersatzschule für geistige Entwicklung betreut.

„Die Fähigkeit, Wissen zu erwerben und Wissen weiterzugeben, ist die Voraussetzung für eine Berufsausbildung“, sagt Beate Krahl. Die Sozialpädagogin arbeitet zusammen mit 30 Kollegen als „Coach“ bei der Berufsvorbereitung und -ausbildung. Doch das englische Wort „Coach“ bedeutet hier mehr als die deutsche Übersetzung mit „Trainer“. „Wir müssen den Lehrern und Ausbildern als eine Art Dolmetscher vermitteln, was der Autist ausdrücken will“, erzählt Carsten Donath. Der Heilpädagoge, selbst als Asperger-Autist diagnostiziert, eine spezielle Form der Störung, verweist auf das breite Spektrum der Behinderung. Es komme darauf an, den Betroffenen geduldig die Ängste zu nehmen – die Angst vor Mathe oder Deutsch oder die Panik vor einer Prüfung. Wichtig sei ein Erfolgserlebnis. Krahl: „Wir hatten schon Azubis, die nicht sprechen konnten und die den Abschluss trotzdem geschafft haben.“

Pressesprecherin Birgit Fischer erzählt von der größten Veranstaltung in Deutschland, die das Oberlinhaus zum Autismustag am Samstag organisiert hat. 320 Interessierte, darunter viele Betroffene und deren Angehörige, haben teilgenommen. Das Besondere ist Fischer zufolge, dass Autisten als Referenten selbst zu Wort gekommen sind. „Miteinander sprechen statt übereinander ist unser Motto“. Auf diese Weise könnten Vorurteile und Barrieren abgebaut werden. So hielt am Vormittag der Auszubildende Paul Kötz, der eine Lehre zum Bürokaufmann macht, einen Vortrag. „Ich gehe meinen Weg“, äußert sich der junge Mann überzeugt.

„Die Ausbildung im Berufsbildungswerk erfolgt in dreißig Berufen“, erklärt Fischer und nennt als Beispiele neben Bürokaufmann oder -frau Verkäufer und Verkaufshelfer im Einzelhandel oder auch Metall- , Werkzeug- und Holzberufe. Außer dem Berufsbildungswerk waren die Autismus- Selbsthilfegruppe Potsdam und der Landesverband des Autismus Deutschland- Vereins an der Organisation beteiligt. Die „Aktion Mensch“ hat die Veranstaltung gefördert. Günter Schenke

Günter Schenke

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