Landeshauptstadt: Im Chaos verscharrt, in Würde begraben
Im September 2012 wurden die sterblichen Überreste von 83 Wehrmachtssoldaten an der Potsdamer Pappelallee gefunden. Am Montag finden sie in Bornim ihre letzte Ruhe
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Sanft steigt das Gelände zum Wald hin an. Aus der Wiese des Neuen Friedhofs in Bornim ragt zentral ein vier Meter hohes Holzkreuz. Die Grabplatten erinnern an Dominosteine, sie sind in Reih und Glied angeordnet, angetreten wie eine Kompanie Soldaten auf dem Exerzierplatz. Jede der acht Reihen oberhalb des Kreuzes besteht aus 42 Steinen; in den fünf Reihen unterhalb des Kreuzes sind es weniger, da ist noch Platz, da grünt das Gras. Am Montag kommender Woche werden dort die Gebeine von 83 Wehrmachtssoldaten ihre nun wirklich letzte Ruhestätte finden, nachdem sie 67 Jahre lang unweit der Pappelallee verscharrt lagen. Bei Bauarbeiten am Voltaireweg kamen sie im September 2012 zutage. Sie sind im Frühjahr 1945 „sehr zügig bestattet worden, ohne sich Mühe um Grab und Identität zu geben“, sagt Oliver Breithaupt von der Kriegsgräberfürsorge, „der Einzelne spielte in dem Chaos keine Rolle mehr“.
Sechs der gefundenen Toten erhalten Einzelgräber, da sie auch einzeln gefunden wurden. Sie werden die neunte Reihe komplettieren, auf deren Grabplatten Name, Dienstgrad, Geburts- und Todestag eingraviert sind. Diese Daten ermittelt die Berliner WASt, ein Kürzel, das einmal Wehrmachtsauskunftstelle bedeutete, bis Deutsche Dienststelle besser klang. Diese Deutsche Dienststelle (WASt) – so nun die korrekte Bezeichnung – wird nach Auskunft ihres Mitarbeiters Herbert Pieske noch Monate für die genaue Identifizierung der Wehrmachtstoten von der Pappelallee inklusive der Benachrichtung der etwaigen Angehörigen brauchen. Ist sie damit fertig, gibt die WASt die Daten an die Stadt Potsdam und diese die Grabsteine in Auftrag. Nur so viel kann Pieske jetzt schon sagen: „Einige wurden schon identifiziert.“
Joachim Kozlowski weiß noch mehr: „Es sind definitiv Leute dabei, die in Potsdam ihren gemeldeten Wohnsitz hatten.“ Der 41-Jährige von der Deutschen Kriegsgräberfürsorge ist Umbetter von Beruf, er ist der Mann, der jeden gefundenen Knochen aus der Erde birgt. Der diese Gebeine in Minisärge legt, in Pappkartons der Größe 35 mal 70 Zentimeter, in denen die Gebeine der zumeist im Militärlazarett der Adolf-Hitler-Kaserne verstorbenen Soldaten nun bestattet werden. Auch die Gebeine aus den an der Pappelallee gefundenen Kameradengräbern mit bis zu 35 Skeletten kommen in diese Kartons. Sie werden am Montag dicht an dicht in einem Gemeinschaftsgrab liegen, das ein Bagger des Grünflächenamtes am Freitag aushob.
Kozlowski, seine genaue Berufsbezeichnung lautet „Exhumator“, nimmt Maß an Reihe neun. Schließlich soll sie in gerader Linie verlängert werden. Den Anfang dieser Reihe macht Karl Weyer, Soldat, 24. 7. 1922 bis 1.5. 1945. Zweiter ist Gerhard Iwanowski, Soldat, 23. 4. 1928 bis 1.5. 1945. Dann kommt das Grab von Albert Zimmermann, Soldat, 25. 8. 1880 geboren, gestorben auch am 1. Mai 1945. Im Unterschied zu den anderen beiden, die jung fielen, war er bei seinem Tod fast 65 Jahre alt. Gerade diese Älteren sind es, die die Vermutung nahelegen, dass unter den Toten von der Pappelallee auch Potsdamer waren.
Denn gegen Kriegsende, als viele Wehrmachtstruppen schon aufgerieben waren, zog der NS-Staat Jugendliche, aber auch ältere Männer ein – in reguläre Armeeeinheiten, aber auch in den Volkssturm, das letzte Aufgebot des untergehenden Tausendjährigen Reiches, wie die Propaganda den NS-Staat bezeichnete. Dieser Volkssturm, erklärt der Chef der Brandenburger Kriegsgräberfürsorge, habe besonders hohe Verluste gehabt. „Sie waren den kampferprobten sowjetischen Soldaten total unterlegen“, sagt Breithaupt und ergänzt: „Die Volkssturm-Einheiten haben in Potsdam besonders stark gelitten.“ In Potsdam hätten diese Jungspunde- und Altherren-Verbände eine besonders große Rolle gespielt. Etwa für die Propaganda: Berlin war zerstört, nur in Potsdam gab es noch heile Häuserzüge, vor denen die Verbände in fröhlichem Siegesmarsch fotografiert werden konnten – zumindestens bis zum Bombenangriff auf Potsdam am 15. April 1945. In einer Ausgabe letzter Tage brachte es eine Einheit des Potsdamer Volkssturms sogar aufs Titelbild der „Neuen Berliner Illustrierte“.
Neben Ringen und einer silbernen Taschenuhr wurden 14 Erkennungsmarken bei den Toten an der Pappelallee gefunden, sieben davon komplett, sieben nur mit der oberen Hälfte. Komplette Marken bei toten Soldaten bedeuten, dass diese von unwissenden Zivilisten beerdigt wurden oder dass sie unter Bedingungen unter die Erde kamen, unter denen sich niemand mehr drum schert, ob Hinterbliebene informiert werden können. Eigentlich soll es so sein: Von der Erkennungsmarke bleibt der obere Teil beim Gefallenen, der untere Teil wird an die WASt geschickt, die die Angehörigen informiert. Auf beiden Teilen des Aluminiumblechs sind die jeweiligen Kenndaten des Soldaten eingraviert. Allerdings, erklärt Breithaupt, war auf keiner der 14 Marken ein „DV“ zu finden, das Erkennungskürzel des Volkssturms.
Doch deute das hohe Alter einiger Soldaten auf Mitglieder des letzten Aufgebots hin. Unklar ist, sagt Umbetter Kozlowski, ob nunmehr auch Hermann Wernecke gefunden wurde. Nach dem Potsdamer Volkssturm-Mann sucht die Kriegsgräberfürsorge im Auftrag der Familie schon lange. Bereits Anfang der 1990er-Jahre wurde nach ihm an der Pappelallee gegraben, doch vergebens. Wernecke hinterließ ein Kriegstagebuch. Demzufolge erlitt er am 27. April 1945 einen Steckschuss am Oberschenkel und wurde am 28. April ins Lazarett der Adolf-Hitler-Kaserne eingeliefert. Am dritten Mai vermerkt Wernecke eine „Vergiftung des Beckens“, am 4. Mai klagt er über verheerenden Wassermangel. Am 10. Mai 1945 verstarb Hermann Wernecke an einer Lungenembolie. Kozlowski, ausgebildeter Rettungsassistent und Pathologe, vermutet, dass die Kugel den Oberschenkelknochen beschädigte und Knochenmarkfett in die Blutbahn gelangte. Kozlowski weiß, dass der Mann auf dem Lazarettfriedhof begraben wurde. „Wir wissen bloß nicht genau wo.“
Wenn die 83 von der Pappelallee am Montag an der Golmer Chaussee ihre letzte Ruhe gefunden haben, ist die Arbeit von Kozlowski in Potsdam noch lange nicht getan. Im Gegenteil: Über 1000 konkrete Suchanfragen allein für das Potsdamer Stadtgebiet liegen dem freundlichen, besonnen wirkenden Totenausgräber vor. Von über eintausend Soldaten nicht nur aus der deutschen Wehrmacht wird vermutet, dass sie unerkannt in der Potsdamer Erde ruhen. Allein weitere 500 Tote vermutet Kozlowski noch im Umfeld der Pappelallee im Bornstedter Feld. Anträge auf weitere Grabungen sind bei der Stadt Potsdam bereits gestellt. Wesentlich bestimmt wird der Erfolg der Arbeit Kozlowskis vom Wohlwollen der Verwaltungen. An der Pappelallee hatte er Glück: Mit dem entsprechenden Formular für eine Exhumierungsgenehmigung betrat er das Hauptgebäude des Grundstückseigentümers, der städtischen Pro Potsdam GmbH, „und nach 30 Minuten war der Willi drauf“. Es gebe Fundstellen, da warte er seit drei Jahren auf die nötige Unterschrift. Und gut lief auch dies: Die an der Pappelallee tätige Baufirma hat ihre Arbeiten sofort eingestellt und den Fund der Skelette umgehend gemeldet, lobt Kozlowski – denn es laufe oft auch anders: „Es gibt Firmen, die baggern mitten durch den Brustkorb.“
Die Bestattung am Montag ab 13 Uhr wird in aller Würde geschehen, sagt Kozlowski. Einzeln werde er seinem Chef Oliver Breithaupt die kleinen Särge reichen, die dieser dann in die Erde senkt. Begraben werden „Menschen, die mit dem Wertvollsten bezahlt haben, das sie haben, ihrem Leben“. Viele seien „ideologisch völlig verstrahlt“ worden durch die NS-Propaganda oder hatten die Wahl, „ob sie von vorn erschossen werden oder von hinten“. Am Montagnachmittag, nachdem Kozlowski in Bornim alles getan hat, was er für die Toten tun kann, wird er im Potsdamer Norden nachsehen, ob er „Louis“ bergen kann. Für den französischen Soldaten liegt ihm eine Suchanfrage vor – und eine genaue Beschreibung, wo er ihn finden könnte.
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