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DICHTER Dran: Im Zeichen des Herzens

Seit Weihnachten habe ich eine Pulsuhr. Sie ist schwarz und wird mit einem Stretchgurt geliefert, den man sich unter die Brust bindet.

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Seit Weihnachten habe ich eine Pulsuhr. Sie ist schwarz und wird mit einem Stretchgurt geliefert, den man sich unter die Brust bindet. Eine Pulsuhr schien mir bisher so unnütz wie eine elektrische Brotschneidemaschine oder eine Sitzheizung: ein Leben mit Stützrädern. Pulsuhren tragen Menschen, die bis an die Zähne atmungsaktiv eingekleidet sind und sich den Elektrodengurt nur sichtbar umschnallen, weil er farblich zur Klamotte passt. Ich bin in Schlabberbaumwolle durch den Park gerannt, bis ich nicht mehr konnte; je weniger Schnickschnack, umso authentischer die Verausgabung.

Mit dem neuen Jahr habe ich die Seiten gewechselt. Und wie das so ist bei Konvertiten: aus mir ist eine radikal-überzeugte Pulsuhrenträgerin geworden. Eine Pulsuhrterroristin. Ich nehme die Uhr überhaupt nicht mehr ab. Statt in die Landschaft zu sehen, gucke ich auf die Uhr, Freunde, die Neujahrsgrüße ausrichten, pushen meinen Ruhepuls um 20 Prozent. Fasst die Bedienung bei Fahland das Brot mit nackten Händen an, piept die Uhr; eine Warnung, dass ich kurz vorm Explodieren bin. Steigt der Herzschlag auf 150, um dann auf den stillen Grund von 70 zu stürzen und mich momentlang außerhalb meines Körpers schweben zu lassen, geschieht etwas Schönes. Ich weiß hinterher bloß nicht mehr was, weil ich mit der Uhr beschäftigt war. Kurz: 2010 nehme ich die Welt nur noch über Herzfrequenzen wahr. Die Verlegung der Ostseepipeline: 150. Afghanistan: 170 (bei 185 tritt in meinem Alter der Herztod ein). Die Übernahme Potsdamer Villen durch russische Oligarchen: 110. Wenn ich daran denke, wie diese Oligarchen an ihr Geld gekommen sind: 160, wo die Frauen in den von diesem Geld erworbenen Villen herkommen mögen: 180. Beim Papst muss ich die Uhr abmachen. Sonst explodiert die Uhr. Nur wenn ich durch den Park jogge, geht mein Herz wie gewohnt in der verlässlichen Gemütlichkeit eines Zweitakters. Immerhin verstehe ich jetzt die Banker. Wer nur noch in Zahlen lebt, hat den entscheidenden Vorteil, dass er sich nicht mehr so aufregt.

Unsere Autorin Antje Ràvic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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