Landeshauptstadt: Im Zweifel für die Angeklagten
Ermyas Mulugeta richtet sich auf einen möglichen Freispruch der Angeklagten ein: Ein Jahr nach dem Vorfall
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Keine Minute hat er bislang verpasst. Er macht sich Notizen. Manchmal schüttelt er den Kopf. Seit 7. Februar sind elf Verhandlungstage vergangen. Und noch immer ist nichts erwiesen. Dabei hatte Ermyas M. gehofft, mit dem Prozess das dunkelste Kapitel in seinem bisherigen Leben abschließen zu können. Heute vor genau einem Jahr war Ermyas Mulugeta an der Haltestelle Charlottenhof in Potsdam brutal niedergeschlagen worden. Der dunkelhäutige Potsdamer mit äthiopischen Wurzeln erlitt schwerste Kopfverletzungen. Die Ärzte kämpften wochenlang um sein Leben. Wegen eines möglichen rassistischen Motivs machte der Fall wenige Wochen vor der Fußball-Weltmeisterschaft international Schlagzeilen. Heute geht es dem 38-Jährigen körperlich gut. Psychisch jedoch hat er den Angriff noch nicht vollends verarbeitet. Der Prozess gegen zwei Angeklagte sollte ein Baustein dazu sein.
Seit dem 7. Februar müssen sich der inzwischen 30 Jahre alte Björn L. wegen gefährlicher Körperverletzung und der 31-jährige Thomas M. wegen unterlassener Hilfeleistung vor dem Landgericht Potsdam verantworten. Sie sollen am 16. April 2006 gegen 4 Uhr morgens mit Ermyas Mulugeta in Streit geraten sein und ihn als „Scheiß-Nigger“ beschimpft haben. Dann soll L. den gebürtigen Äthiopier mit einem heftigen Faustschlag niedergestreckt haben. Mulugeta hatte kurz vor dem Streit versucht, seine Frau Steffi anzurufen. Da sie sich nicht meldete, zeichnete die Mailbox ihres Handys einen Teil der Auseinandersetzung auf. Die Aufnahmen ließen die Ermittler zunächst von einem rassistisch motivierten Mordversuch ausgehen. Der Fall ging zum Generalbundesanwalt nach Karlsruhe – Betroffenheit und Wut blieben in Potsdam. Bei Demonstrationen wie „Potsdam bekennt Farbe“ auf dem Luisenplatz gingen Hunderte auf die Straße, am Tatort brannten tagelang Kerzen. Mahnwachen wurden gehalten, während Mulugeta auf der Intensivstation des Klinikums Ernst von Bergmann um sein Leben kämpfte. Vier Tage nach der Tat wurden zwei Verdächtige verhaftet und mit Hubschraubern nach Karlsruhe geflogen. Im Laufe der Ermittlungen ließ sich der Tatvorwurf jedoch nicht halten. Die Beschuldigten kamen unter Auflagen auf freien Fuß. Beide bestreiten jede Tatbeteiligung. Sie wollen sich nicht einmal kennen. Und der Prozess hat bislang keine Beweise dafür erbracht, dass sie in der fraglichen Nacht zum Ostersonntag 2006 am Tatort waren.
DNA-Spuren auf Bierflaschen-Scherben lassen sich nach der Aussage einer Spezialistin des Landeskriminalamtes nicht eindeutig zuordnen. Zwar gebe es Spuren, die von Thomas M. verursacht worden sein könnten. Doch sei das nicht sicher nachzuweisen. Und die Augenzeugen? Sie machen widersprüchliche Angaben. Einer will gesehen haben, wie Mulugeta von zwei Männern bedroht wurde. Ein anderer behauptet, Mulugeta sei den Männern hinterher gelaufen und habe einem in das Gesäß getreten. Daraufhin habe der Getretene zugeschlagen. Ein Taxifahrer – einer der wichtigsten Zeugen der Staatsanwaltschaft – konnte die Männer nicht zweifelsfrei identifizieren. Anklage und Nebenklage setzen allerdings noch auf ein Stimmgutachten. Dabei soll geklärt werden, ob eine Stimme auf der Mailbox die des Hauptangeklagten sein könnte. Zeugen wollen die Stimme erkannt haben. Björn L. wird wegen seiner hohen Fistelstimme seit seiner Kindheit „Piepsi“ genannt. Allerdings haben sein Arzt sowie Polizisten ausgesagt, dass L. zur Tatzeit heiser gewesen sei. Auch zahlreiche Freunde bestätigten das. Zudem will die Mutter ihren Sohn in der Tatnacht zuhause in Wilhelmshorst im Bett gesehen haben.
Opferanwalt Thomas Zippel verweist jedoch auf die Auswertung der Handy-Daten aus der Tatnacht. Demnach soll eines der Telefone des Hauptangeklagten nicht von Wilhelmshorst aus benutzt worden sein. Der Polizist, der die Daten ausgewertet hat, wird an einem der nächsten Prozesstage erwartet. Ferner werden noch Abschriften von CDs in den Prozess eingeführt, die bei der Festnahme in L.s Auto gefunden wurden. Darauf soll rechte Musik zu hören sein. Der Prozess wird am Mittwoch nach einer dreiwöchigen Pause fortgesetzt. Das Urteil wird Anfang Mai erwartet. Ob es zu einer Verurteilung kommt, ist derzeit fraglich. Die Verteidiger sehen dazu überhaupt keinen Anlass.
Nebenkläger Zippel räumt ein, dass gegen M. bislang nichts vorliegt, was eine Verurteilung rechtfertigen könnte. Bei L. seien jedoch die Gutachten abzuwarten. Ermyas Mulugeta ist auf einen möglichen Freispruch gefasst. Emotional sei der 38-Jährige inzwischen nicht mehr so beteiligt wie noch zu Beginn des Prozesses, sagt sein Anwalt. Schließlich wisse sein Mandant dass eine Verurteilung nur auf der Grundlage zweifelsfreier Beweise möglich sei. Andernfalls müsse er eben damit leben, dass der Angriff ungesühnt bleibe. Zur Aufklärung beitragen kann der Deutsch-Äthiopier nicht. Er kann sich nicht an die Tat erinnern. Auch deshalb lässt er keine Sekunde des Prozesses aus. Er hatte gehofft, ein Stück Erinnerung zurück zu gewinnen. ddp
Susanne Fischer
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