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SAMSTAGScocktail: In der Drehtür

Grob besehen lässt sich der Verlauf der Architektur-Evolution innerhalb meiner Lebensspanne so beschreiben: von der Höhle zum Glashaus. Auch in dieser Stadt folgen die neu errichteten Gebäude dem Glasmodell – selbst die, die sich von außen schlossähnlich geben.

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Grob besehen lässt sich der Verlauf der Architektur-Evolution innerhalb meiner Lebensspanne so beschreiben: von der Höhle zum Glashaus. Auch in dieser Stadt folgen die neu errichteten Gebäude dem Glasmodell – selbst die, die sich von außen schlossähnlich geben. In ihrem Innern sind auch sie schlichte, geometrische, übersichtliche Räume. Verpackte Glashäuser sozusagen. Was das Glashaus durchzusetzen beabsichtigt, ist die Auflösung auch des letzten uneinsehbaren, dunklen Winkels. Transparenz ist das favorisierte Lebensprinzip. Sich vergraben, womöglich verschanzen gilt nicht mehr.

Ich sitze in der Bibliothek. Die gläserne Front ist eine Leinwand für das Geschehen draußen. Ungehindert nimmt der Blick die vorüberfahrenden Straßenbahnen wahr, die Menschen, den fallenden Schnee. Ich sitze in einer Serviceanstalt. Alles funktioniert, was schön ist. Reibungslose Abläufe. Wie in ein Kaufhaus tritt man ungehindert ein und nach soundso viel Minuten oder Stunden wieder aus. Ein Haus wie eine Drehtür. Von einem der benachbarten Leinwandplätze dringt das Wort Regelstudienzeit an mein Ohr. Das Wegarbeiten von vorgegebenen Aufgabenstellungen – an diesem Ort kein Problem. Zu früheren Zeiten, als die Bibliothek noch einer Höhle glich (die sich von außen wie ein Glashaus gab), habe ich hier meine eigene Einstellsystematik verfolgt. In Nebengängen und stillgelegten Adern des angestaubten Labyrinths stellte ich die Bücher, mit denen ich gerade arbeitete, an ausgesuchte geheime Plätze, wo ich sie beim nächsten Mal problemlos wiederfand. Betrat ich das Gebäude, in dem sich trotz seiner vermeintlich schlichten Form immer wieder ungeahnte Plätze auftaten (und sei es in der Tiefe durchgesessener Stühle), bekam mein Wesen jedes Mal etwas Fledermausartiges. Die leicht verlotterte, zwielichtige Unübersichtlichkeit einer Höhle ist der Paradeort der Planlosen, Grübelnden, der auf einen Geistesblitz Wartenden. Schatten an der Wand, irgendwo in der Ferne glänzt das Tageslicht, aber bis dahin ist es ein weiter Weg, wenn man es überhaupt je wieder hinaus schafft Unbestritten, jede Architektur färbt mit der Zeit auf den Geist ihrer Besucher ab. Insofern ist es natürlich absolut in Ordnung, dass plötzlich eine Schülerin direkt hinter mir ihren Freundinnen durch diesen strahlend neuen Palast aus Luft und Unschuld begeistert zuruft: Die haben ja sogar Filme hier!

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.

Julia Schoch

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