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Unterricht mit Hindernissen: In der Potsdamer Taubblindenschule werden seit 125 Jahren Kinder gefördert

Mit einem Festgottesdienst im Potsdamer Oberlinhaus beginnen am Montag (24. September, 12.00 Uhr) die Feierlichkeiten zu 125 Jahren Taubblindenarbeit der Einrichtung. Vier Tage lang wird auf verschiedenen Veranstaltungen über die Arbeit mit Taubblinden informiert.

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Potsdam - Aufgeregt hält Jan das piepsende Thermometer in die Höhe. „19! 19!“ jubelt der 15-Jährige begeistert, und seine Freundin Olivia streckt ihm die Hand zum Abklatschen hin. Diese Freudengeste im Klassenzimmer der Potsdamer Taubblindenschule fällt jedoch etwas wackelig aus. Denn Olivia und Jan sehen nicht gut,
hören viele Dinge schlecht und sind auch geistig eingeschränkt. „Wir haben gerade angefangen, uns mit Wetter und Temperaturen zu beschäftigen“, erklärt Lehrerin Regine Dombrowski. Wenn sie spricht, unterstützt sie ihre Worte mit Gebärdensprache. Später wird sie den Jugendlichen Wolken zeigen und wie der Wind die Blätter in den Bäumen bewegt.

Seit 125 Jahren werden in der Bildungsstätte Kinder und Jugendliche betreut, gepflegt und gefördert. Zum Auftakt der Jubiläumsfeierlichkeiten wird am Montag (24. September) ein Festgottesdienst gefeiert, zu dem auch Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) erwartet wird.

Die Schule gehört zum evangelischen Oberlinverein, der seit Ende des 19. Jahrhunderts seinen Hauptsitz zentral im Potsdamer Stadtteil Babelsberg hat. Benannt nach dem elsässischen Pfarrer Johann-Friedrich Oberlin (1740-1826) hatte der Verein das Ziel, Kinder zu betreuen und zu bilden. 1887 wurde mit der zehnjährigen Hertha Schulz das erste Kind aufgenommen, das sowohl stumm als auch taub und blind war - dies bildete laut Verein den Anfang einer deutschlandweit bis dato einmaligen systematischen Arbeit mit Taubblinden.

„Es ist immer schwierig, eine Grenze zu ziehen, ab wann die Taubblindheit anfängt“, sagt der Leiter Torsten Burkhardt. „Die meisten Schüler haben noch ein Resthören oder Restsehen.“ Seit zehn Jahren steht Burkhardt der Taubblindenschule vor. Um deren Komplexität zu erklären, greift er zum Notizblock und malt Kreise auf. „In der Schnittmenge von Sehbehinderung, Hörbehinderung und sonstigen Einschränkungen - also auch geistigen - finden sich unsere Schüler“, erklärt er. Insgesamt seien es 38 Kinder und Jugendliche, die von etwa 25 Pädagogen betreut würden.

„Teilweise haben wir aber auch keine verlässlichen Daten über den Grad der Behinderung“, sagt Burkhardt. Denn die klassischen medizinischen Tests wären bei den meisten Kindern gar nicht durchführbar. Deshalb gibt es in der Schule auch eine eigene Abteilung für Diagnostik. Dort würden die Seh- und Hörfähigkeiten mehr durch Beobachtung als durch medizinische Messungen festgestellt.

Der Unterricht sieht in allen Klassen unterschiedlich aus. Einige Kinder können gut sehen und lernen die Gebärdensprache rein visuell. Bei anderen Schülern wird durch Zeichen, die in die Hand geschrieben werden, kommuniziert. Die Möglichkeiten zur Bildung sind dabei sehr unterschiedlich. Während bei einigen Kindern auch Biologie und Rechnen auf dem Stundenplan steht, müssen andere erst ihre eigene Wahrnehmung und Kommunikation trainieren.

„Es ist schön, dass sich der Bildungsbegriff erweitert hat“, meint der Lehrer und Pfleger Stephan Zick. Er hat gerade dem 14-jährigen Leo aus dem Rollstuhl auf eine Liege geholfen, auf der er sich gerade ausstrecken und auch mal auf den Bauch legen kann. „Sich selbst mit seinen Sinnen zu erleben muss auch erst einmal gelernt werden“, sagt Zick. „Leo zum Beispiel hört wie ein Luchs und macht sich durch Laute verständlich.“ Jeden Tag erlerne er ein neues Stück Kommunikation und Selbstwahrnehmung.

Für Schulleiter Burkhardt ist seine Einrichtung schon ein kleines Stück der politisch viel diskutierten Inklusion. „Wir versuchen hier alle Schüler mit den  unterschiedlichsten Behinderungen zu unterrichten“, erläutert er. Dennoch halte er das gemeinsame Lernen oft für schwierig. „Die Individualität der Kinder steht immer an erster Stelle“, fügt Burkhardt hinzu. Es müsse immer im Einzelfall entschieden werden, in welchem Rahmen die geistig oder körperlich behinderten Schüler unterrichtet werden.

Bei Olivia und Jan ist bald Mittagspause. Heute haben sie viel über das Wetter gelernt und gut mitgearbeitet. Aufmerksame Schüler seien die zwei allerdings nicht immer, verrät Lehrerin Regine Dombrowski lachend. „So, wie das bei 14-Jährigen halt ist.“

Die Taubblindenschule am Oberlinhaus in sieben Daten
   
   - Am 14. Januar 1887 wurde Hertha Schulz im Oberlinhaus Potsdam als erstes Kind aufgenommen, das sowohl taub und stumm als auch blind war.

- Nach Angaben der Oberlinstiftung begann damit deutschlandweit die erste systematische Arbeit mit taubblinden Menschen.

- Heute haben 95 Prozent der Hör-Seh-Behinderten, die in den Einrichtungen des Oberlinhauses betreut und gefördert werden, diese Einschränkung von Geburt an.

- Die Taubblindenschule ist eine separate Einrichtung an der Oberlinschule.

- Zurzeit betreuen an der Taubblindenschule 25 Pädagogen 38 Schüler.

- Im zu der Schule dazugehörigen Wohnhaus leben derzeit 20 Kinder und 40 Erwachsene.

- Kleinkinder und besonders pflegebedürftige Erwachsene mit Taubblindheit werden in einer Tagesstruktur betreut.

Luise Poschmann

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