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DICHTER Dran: It’s all over now

Noch einmal Tank-Top tragen, auch wenn der Wind schon straff bläst. Noch einmal in Flipflops zum Bäcker, auch wenn die Zehen schon weiß werden vom Bodenfrost.

Stand:

Noch einmal Tank-Top tragen, auch wenn der Wind schon straff bläst. Noch einmal in Flipflops zum Bäcker, auch wenn die Zehen schon weiß werden vom Bodenfrost. Noch einmal eine „Potsdamer Stange“ auf dem Balkon bei Sonnenuntergang, auch wenn die Sonne schon blässlich verschleiert ist und auf dem Schaum eine dünne Eisschicht sitzt. Noch einmal nach Caputh im kurzen Rock, auch wenn ich nie Röcke trage. So überschwänglich sind meine brandenburgischen Herbstgefühle. (Am Sonntag läuft auf Inforadio eine Sendung zur Frage: Was ist brandenburgisch? - Man hätte mich einladen sollen!)

Letzte Woche war ich in Heilbronn. Es ist eine dieser fußläufigen, mittelgroßen westdeutschen Kleinstädte, wo man dauernd den Stadtplan herumdreht, um sich daran zu erinnern, in welcher von ihnen man sich gerade befindet. Ich traf dort einen gebürtigen Potsdamer. Er war so alt wie ich und erklärte mir, wie gut es sei, einen Ort zum Leben zu finden. Er meinte so etwas wie Heimat, sagte es aber nicht. Heimat ist ein Wort, das auch in den Ohren meiner Generation immer noch befremdlich klingt. Wir standen inmitten dieses großen, hellhörigen, grau-beigen Sixties-Betonblocks namens Heilbronn. Nicht einmal die Weinberge waren zu sehen.

Aber der Potsdamer hat sich entschieden. Heilbronn ist seine Stadt. Dort, wo er herkommt, kämpfen seine Eltern mit Rückübertragungsansprüchen ihres Hauses. Dort darf jemand ernsthaft Politik machen, der früher Menschen bespitzelte. Dort ist die Sonne kalt, und er hatte keinen Job bekommen. Hier waren es 30 Grad. Die Cafés waren brechend voll, man trank Caipi, eine Blaskapelle spielte. Auf dem Markt gab es Porzellanfiguren auf Stäben, die man zur Zier in Blumenbeete steckt; Frösche, halbnackte Nymphen, fies grinsende Katzen. Der Sommer schien hier nicht zu Ende; vielleicht wuchsen noch im Dezember Freilandtomaten. Als ich in den Flieger stieg, war ich erleichtert. Ich flog zurück in meine kaltherzige, vorwinterliche, preziöse Sonne, in meine sibirische Luft, und dachte, die Heilbronner kennen diesen herrlich traurigen Abschied nicht. Sie leben unter Porzellanglocken. Mein Bekannter würde in seiner Wahlheimat etwas Wesentliches entbehren: die Melancholie.

Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Antje Rávic Strubel

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