Landeshauptstadt: Jede Ahnung ist ernst zu nehmen Hasso Klimitz über „Suizid im Alter“
80 Prozent der Selbstmorde verüben Männer im Alter über 75 Jahre. Bei jedem zweiten Suizid, den Frauen begehen, sind die Betroffenen über 60 Jahre alt.
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80 Prozent der Selbstmorde verüben Männer im Alter über 75 Jahre. Bei jedem zweiten Suizid, den Frauen begehen, sind die Betroffenen über 60 Jahre alt. Alte Menschen, erklärte Hasso Klimitz vom Klinikum „Ernst von Bergmann“ gestern in seinem Vortrag zum Thema „Suizid im Alter“, sind nach den psychisch Erkrankten und den Drogen-Konsumenten die drittgefährdetste Gruppe. Als Grund hierfür skizzierte Klimitz eine Gesellschaft im Jugendwahn, die nur noch fitte Menschen zeige und Gebrechen ausgrenze. Im häufiger gehe Alter mit finanziellen Nöten und der Erfahrung sozialer Kälte einher. Debatten über die Frage „Lohnt das neue Hüftgelenk noch?“ verdeutlichten, dass „eine ethische Situation erreicht ist, die für sich spricht“. Gleichsam lockere sich die familiäre Bindung. Die geringe Geburtenrate senke zudem die Wahrscheinlichkeit, im Alter von seinen Kindern gepflegt zu werden.
Einer Studie zufolge sei der Selbstmordgrund bei Männern über 85 Jahren die drohende Einweisung in ein Pflegeheim. „Es ist demütigend, dass sie klingeln sollen, wenn Sie auf die Toilette müssen“. Konkrete Motive, erklärte Klimitz, sind auch Probleme mit der Familie, etwa, wenn eine sich andeutendes Erbe eine „brutale Dynamik“ in Gang setzt. Das Selbstwertgefühl werde erheblich verletzt, wenn mit großer Kaltschnäuzigkeit das Fell zerteilt wird, selbst wenn der Betroffene noch lebt. Die Sorge, unheilbar krank zu sein, der Verlust eines Angehörigen durch Tod sowie Vereinsamung sind weitere Gründe.
Mit zwei Mythen räumte der stellvertretender Zentrumsleiter in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik auf: Den so genannten „Bilanz-Suizid“ gibt es nicht. Niemand wähle den Freitod aus Zufriedenheit über ein erfülltes Leben. Es steckt Klimitz zufolge immer eine Notlage hinter der Tat.
Der zweite Mythos ist der Glaube von Angehörigen, einen Selbtmordgefährdeten anzusprechen könnte bedeuten, „schlafende Hunde zu wecken“. Klimitz: „Jede Ahnung von Selbsttötungsgefährdung muss ernst genommen werden.“ Andeutungen wie „Ich kaufe mir diesen Winter gar keinen Mantel mehr“ müsse mit der Reaktion „Was ist denn das jetzt?“ quittiert werden. Das direkte Ansprechen des Verdachtes würden die allermeisten Betroffenen als Versachlichung empfinden. „Viele können ganz offen darüber reden“, so Klimitz. Freilich sei eine Reaktion auf eine Suizid-Andeutung peinlich und komme fast einem Übergriff auf die Person gleich. „Aber Sie müssen es tun“, so der Mediziner. Klimitz zitierte den Suizid-Forscher Wolfram Dorrmann, der davon ausgeht, dass, wer sich nicht in aller Stille umbringt, sondern Zuschauer zulässt, immer noch etwas von seinem Mitmenschen erwartet. Daraus resultiere das Recht und die Pflicht zum Handeln. Eine gute Reaktionen sei das Angebot, den Betroffenen zu einem Fachmann zu begleiten. Selbst der Hinweis auf die Telefonseelsorge könne helfen. Vermieden werden sollten Bagatellisierungen nach der Art „das wird schon wieder“ oder „da musst du durch“. Guido Berg
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