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Der Potsdamer Philosoph Hans-Joachim Petsche hat ein Buch über mathematische Genialität geschrieben
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Das Jahr 2008 ist in Deutschland das „Jahr der Mathematik“. Die PNN stellen in dieser Serie Potsdamer Wissenschaftler vor, die sich in Forschung und Lehre mit Mathematik beschäftigen. Heute: Der Philosoph Hans-Joachim Petsche.
In der Stimme von Hans-Joachim Petsche schwingt Begeisterung mit, wenn er über Hermann Graßmann redet. Eine Begeisterung, die der Potsdamer Professor für Philosophie auch zu vermitteln weiß. In jedem seiner Sätze ist zu spüren, dass Petsche von der Arbeit des Stettiner Mathematikers Graßmann fasziniert ist. Manchmal stockt die Stimme des mathematisch und philosophisch ausgebildeten Professors. Dann hält er inne, nur um einen Punkt mit noch mehr Nachdruck zu betonen: „Modern, sonderlich genial!“ So charakterisiert Professor Petsche die Arbeit des 1809 geborenen Mathematikers. Und er muss es wissen: Hans-Joachim Petsche hat jüngst eine ausführliche Biographie des brillanten Mannes veröffentlicht. Es ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Forscherpersönlichkeit.
Der Stettiner Gymnasiallehrer Hermann Graßmann trug Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer philosophischen und mathematischen Revolution bei. Graßmanns 1844 veröffentlichte „Ausdehnungslehre“ vereinte Geometrie und Algebra zu einer neuen mathematischen Disziplin. Fast ohne Formeln zu verwenden, überlegte Graßmann, wie man mit räumlich ausgedehnten Figuren unmittelbar rechnen könne. Damit überwand der Mathematiker in einmaliger Weise eine Trennung, die Jahrtausende alt war. Er vollendete ein Projekt, das schon große Köpfe wie Descartes und Leibniz beschäftigt hatte.
Nur langsam zeigte sich, dass Graßmann damit die Philosophie, die Physik und die Mathematik revolutioniert hatte: ein neues Verständnis von Räumlichkeit war entstanden, ein uraltes gedankliches Dogma brüchig geworden. Es war die Vorstellung, dass wir unsere Welt nur in drei räumlichen Dimensionen denken können. Ende des 18. Jahrhunderts hatte kein Geringerer als Immanuel Kant dieses Dogma philosophisch zementiert. Mit Graßmann aber sollte es ins Wanken geraten.
Heute, wie zu Lebzeiten, ist der Name des Schöpfers der „n-dimensionalen Vektoralgebra“ nur Spezialisten bekannt. Die Theorien von Hermann Graßmann wurden zu seiner Zeit kaum wahrgenommen. Zu neu, zu unverständlich waren die Gedanken des Stettiner Lehrers, der mathematischer Autodidakt war. Er bemühte sich vergeblich um eine Professur an der Universität, engagierte sich in den politischen Kämpfen von 1848, lehrte, forschte und zeugte nicht weniger als elf Kinder. Als um 1860 sein mathematischer Misserfolg besiegelt schien, wandte er sich der Sprachwissenschaft zu. Mit glänzendem Erfolg. Ein von Graßmann verfasstes Wörterbuch des Altindischen ist bis heute im Druck.
So steht Graßmann nicht nur für eine bahnbrechende Theorie höherdimensionaler Räume. Für Hans-Joachim Petsche ist klar, dass der Stettiner ein Stück deutscher Wissenschaftsgeschichte repräsentiert. „Die ganze Atmosphäre in Stettin war borniert, provinziell, genialisch“, erzählt Petsche. Die große wissenschaftliche Leistung Graßmanns sei verknüpft mit der deutschen Provinz. Es ginge um die Welt der Gymnasialprofessoren, des Kleinbürgertums und der gelehrten Gesellschaften. Aber auch bornierte Deutschtümelei und politische Rückschrittlichkeit seien Teil dieser seltsamen Mischung an Einflüssen.
Es geht auch die Geschichte der Berliner Universität, an der Graßmann Theologie studierte: es war sein einziger Ausflug über die Grenzen Stettins hinaus. Die Gedanken des Berliner Philosophen und Theologen Friedrich Schleiermacher, dies hat Prof. Petsche erforscht, haben viele der genialen Denkschritte erst ermöglicht. Aber Graßmann brauchte die Geborgenheit der Provinz, um arbeiten zu können. „Das Provinzgenie“, so nennt Prof. Petsche den als bescheiden und ruhig geltenden Gymnasiallehrer.
„Seine wissenschaftlichen Überlegungen sind zunächst recht einfach“, sagt Hans-Joachim Petsche. „Doch dann zeigt Graßmann einen extremen Drang zur Erweiterung und Verallgemeinerung. Er denkt seine Konzepte mit äußerster Konsequenz zu Ende.“ Auf diese Weise sei Graßmann über die Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes hinausgekommen. „Ausdehnung“ bedeutet bei Graßmann nicht mehr nur Ausdehnung im Raum. Vielmehr geht es um eine beliebige Anzahl gerichteter Größen, die mit seiner „Vektorrechnung“ besser erfasst werden können, als je zuvor. Besonders für komplizierte Optimierungsprozesse sei Graßmanns Vektorrechnung heute fundamental, so Professor Petsche. Sie findet Anwendung in Navigationssystemen, Computertechnik oder der Luft- und Raumfahrt.
Für Hans-Joachim Petsche steht Graßmann für ein Denken jenseits disziplinärer Grenzen, sogar jenseits der akademischen Spezialisierung. Er steht für brillante Innovationskraft. Dies sei ein „Fingerzeig der deutschen Geschichte für die Gegenwart“, schreibt Petsche in der Graßmann-Biographie. Graßmann bewegte sich frei zwischen Mathematik, Physik, Philosophie und Sprachwissenschaft. „Das ist ein wunderbares Koordinatensystem für Kreativität“, so Professor Petsche. Er wünsche sich heute wieder mehr Orientierung an dieser Form des vernetzten Denkens. Da passt es gut, dass sein Buch nun ins Englische übersetzt wird.
Für das kommende Jahr, dem 200. Geburtsjahr Graßmanns, wünscht sich Hans-Joachim Petsche eine internationale Konferenz in Potsdam. Er ist auf der Suche nach Sponsoren. Graßmann, das Stettiner „Provinzgenie“, solle in Potsdam wieder zu Ehren kommen. Und mit ihm auch eine bestimmte Form von Innovation und Kreativität.
Hans-Joachim Petsche: „Graßmann“, Basel, Birkhäuser Verlag.
Mark Minnes
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