SAMSTAGScocktail: Kalte Revolution
Mehr als 30 Grad plus und ich übersetze einen französischen Roman. Für die Südländer ist die Sonne seit jeher eine herrische Macht.
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Mehr als 30 Grad plus und ich übersetze einen französischen Roman. Für die Südländer ist die Sonne seit jeher eine herrische Macht. Nur Unvernünftige versuchen sie zu ignorieren. Im Süden weiß man: Die Sonne ist der Feind. Der unerbittliche, männliche Krieger. Er brennt den Gegner aus, bis er zusammenbricht. Oder sich fügt. In der romanischen Welt wird der Mensch gezähmt von der Sonne, nicht umgekehrt.
Früher habe ich im Hochsommer oft im Wind eines Ventilators gearbeitet. Die reinste Unvernunft. Als käme ein batteriebetriebenes Gerät gegen die Herrschaft des Hitzegottes an. Noch dazu wird die heiße Luft ja nur umgerührt anstatt vertrieben. Anstatt sich im Kampf gegen einen übermächtigen Feind sinnlos zu verpulvern, sollte man sich die Strategie des Gegners zunutze machen. Mit der Hitze leben lernen, heißt siegen lernen. Wer sich ihr überlässt, wird belohnt durch ein Gefühl der inneren Reinigung, eine Art Bestandsaufnahme oder Inventur. Hitze erzeugt Schwitzen: Alles muss raus. Jede unnötige Bewegung schafft Über-Flüssigkeit, Schweiß. Gleichzeitig bringt die Gefäßerweiterung in unserem Körper eine Verengung unseres Bewegungsradius mit sich. Das innere Plus schafft also ein äußeres Minus. Die Bewegungen werden sparsamer, man tut nur das, was wirklich nötig ist. Manchmal auch gar nichts. Wozu wir sonst nicht bereit sind – die Fremdherrschaft der Hitze zwingt uns dazu: Konzentration auf das Wesentliche. Eingeschränkte Leistungswilligkeit, ein Weniger an Hatz und Bewegung, vielleicht sogar Stillstand: Um Himmels willen!, rufen da schon die ersten. Dabei lässt sich diese Zwangslage als Chance begreifen. Für gewöhnlich kommen gesellschaftliche Umwälzungen durch Erhitzung der Massen zustande, durch Reibereien, also Reibung. Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit. Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat sie Kalte Revolution genannt. Dabei handelt es sich ganz einfach um die Unterlassung. Null-Handlungen. Das Nicht-Teilnehmen als Form der Revolte. Einfach liegen bleiben und nichts verbrauchen, nichts debattieren, nichts posten, nichts kaufen, nichts verteidigen oder bekämpfen. Die Sommerhitze gibt uns eine Ahnung, wie künftige Revolutionen aussehen.
Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.
Julia Schoch
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