Homepage: Kampf um das kollektive Gedächtnis Über den Umgang mit der Vergangenheit
1950 war das Jahr nach der Gründung der beiden deutschen Staaten. Nun war klar, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen in Ost und West verschiedene Wege gehen werden.
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1950 war das Jahr nach der Gründung der beiden deutschen Staaten. Nun war klar, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen in Ost und West verschiedene Wege gehen werden. Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg waren noch sehr gegenwärtig. Wie diese Erinnerung an Verfolgung und Widerstand, Krieg und Vertreibung in gesellschaftlichen, politischen und vor allem in literarischen Debatten sich in diesem Jahr artikulierte, wie sie gemeinsam geteilt wurde und wie sie gleichzeitig aber auch die Menschen in verschiedene Erinnerungsgruppen teilte, war unlängst das Thema einer Tagung der Universität Potsdam.
Wie sehr der Kampf um das kollektive Gedächtnis und die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zu der Konstitution von Gesellschaft überhaupt gehört, erläuterte Harald Schmid zur Eröffnung. Der Diskussion um Faschismus und Krieg mussten sich 1950 nicht nur die Deutschen stellen, sondern nahezu jedes Land, das von Hitlers Truppen überfallen worden war. Denn auch dort galt es Mitläufertum, Kollaboration oder die Ignoranz gegenüber dem Mord an den Juden aufzuarbeiten. Wie unterschiedlich diese Aufarbeitung erfolgte, zeigte der multistaatliche Vergleich, wie ihn die Konferenz in Einzelstudien bot. Etwa in Simone Barcks Nachzeichnung der Verhinderung des „Schwarzbuches“ über den Genozid an den russischen Juden, eines tausendseitigen Kompendiums mit Zeugenberichten und zeitgenössischen Recherchen, das bereits in den Druckfahnen vorlag und das dann doch als zu „unzweckmäßig“ abgelehnt wurde.
In Polen, so Katarzyna Radziszewska aus Lodz, gab es hingegen schon früh, beginnend mit einem Flugblatt anlässlich des Warschauer Ghettoaufstands, das eine prominente katholische Autorin veröffentlichte, eine Welle von Texten, die mit den Naziverbrechen abrechneten. Bis 1950 erschienen allein fünf Anthologien zu diesem Thema. In Österreich wiederum, das sich in nationalem Selbstverständnis gern als „erstes Opfer Deutschlands“ bezeichnete, wurde die rassistische Komponente des deutschen Faschismus bis zum Eichmannprozess 1961 kaum erfasst. Jürgen Doll (Paris) zeichnete an der Biographie des Kommunisten Hermann Langbein die zunehmende Depression über die Nichtanerkennung der Opfer nach. In einem Briefwechsel mit dem italienischen Auschwitz-Überlebenden Primo Levi ist die Tatsache des Nicht-gehört-Werdens das immer wiederkehrende Hauptthema. Anhand dreier Romane des Neorealismus beschrieb die Potsdamerin Isabella von Treskow Italiens Auseinandersetzung mit dem Faschismus und befand, dass die Kälte der Sprache sich letztlich gegen den Inhalt wendet. Die schematische Auffassung von Deutschland als politischem Aggressor und der eigenen Resistenca-Identität verhinderte bis in die 60er Jahre die kritische literarische Auseinandersetzung mit eigener Schuld, in der Wissenschaft gar sei sie erst seit 15 Jahren zu bemerken.
Der europäische Kontext der Konferenz zeigte einmal mehr, wie notwendig eine vergleichende Analyse von gesellschaftlichen Vergangenheitsbewältigungsversuchen ist. Lene Zade
Lene Zade
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