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Landeshauptstadt: Keine Angst vor Mathematik

Therapeut Jörg Kwapis hilft Kindern und Jugendlichen mit Rechenschwäche

Stand:

Schlechte Noten für Schulabsolventen. Ausbildungsbetriebe beklagen zu geringe Mathekenntnisse bei ihren Lehrlingen. Manche Jugendliche scheitern bereits an Grundrechenaufgaben. Dr. Jörg Kwapis, Leiter des Potsdamer Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche, sieht die Ursache dafür im mangelnden elementaren Mathematikverständnis verwurzelt, wenn sich Kinder keinen richtigen Begriff von Zahlen machen. Er geht dem Problem auf den Grund.

Herr Dr. Kwapis, landläufig herrscht die Auffassung: Wer nicht rechnen kann, kann nicht logisch denken.

Das stimmt nicht. Kinder mit Rechenschwäche ziehen in anderen Fächern ja durchaus logische Schlüsse. Ihr spezielles Problem liegt darin, dass sie die Logik der Zahlen und Rechenoperationen nicht verstanden haben.

Woran erkennt man das?

Zum Beispiel beim Lösen von Aufgaben wie 8 minus 7 oder auch 50 minus 49, die ja eigentlich keine Rechenaufgaben sind. Wer die Zahlen verstanden hat, weiß die Lösung sofort. Rechenschwache Kinder hingegen haben hier schon Schwierigkeiten, weil sie die Zahlen nicht als Mengen denken, die in einer Beziehung zueinander stehen. Das fällt auch beim Zerlegen von Zahlen auf: Die Neun zum Beispiel kann von Kindern mit Rechenschwäche nicht in Drei und Sechs oder in Zwei und Sieben aufgegliedert werden.

Dennoch versuchen diese Kinder zu rechnen und kommen auch zu Ergebnissen.

Indem sie mit den Fingern abzählen oder einzelne Lösungswege auswendig lernen. Ersatzhandlungen, die nicht mehr funktionieren, wenn die Zahlenräume größer und die Aufgaben komplizierter werden.

Was dann?

Innerlich steigen sie irgendwann aus dem Unterrichtsstoff aus. Sie können nicht mehr folgen, kommen zu keinem Ergebnis. Ihr ständiges Versagen und schlechte Zensuren frustrieren sie und verstärken das Gefühl, ein bisschen dumm zu sein. Hinzu kommt noch der Vorwurf der Eltern, nicht fleißig genug geübt zu haben.

Würde denn häufiges Üben helfen?

Es nützt nichts zu üben, was man nicht verstanden hat. Wichtig ist, den Punkt zu finden, an dem das Kind aufgegeben hat, und das hier bestehende Problem zu analysieren. Manchmal muss man dann eben zurückgehen bis zum Anfang, zum Mengenverständnis von Zahlen.

Warum fehlt dies dem einem Kind, dem anderen nicht?

Bis 1989 gehörte der spielerische Umgang mit Mengen zur Vorschule im Kindergarten. Die Erstklässler hatten annähernd die gleichen Voraussetzungen. Heute sind die Unterschiede größer. Es kommen zu wenige Anregungen, vor allem auch aus dem Elternhaus. Dabei lässt sich mathematisches Entdecken ganz einfach in den Alltag einbauen: beim Stufenzählen, beim Messen und Wiegen in der Küche, auf dem Nachhauseweg beim Kastaniensammeln. Wer hat mehr, wer hat weniger?

Es gibt ja auch didaktisches Spielzeug, sogar Lernprogramme für den Computer.

Mit dem Computer kann man aber nicht reden. Wichtig ist, über die sinnliche Erfahrung beim Spiel zu reflektieren, sich auszutauschen, Fragen zu stellen und zu begründen, warum man etwas auf die eine oder andere Weise gelöst hat. Genau diese Art von Kommunikation kommt oft zu kurz, nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule.

Inwiefern?

Der Mathematikunterricht verläuft zumeist formalisiert. Es wird mit einer sehr starken Ergebnisorientierung gelernt: Hauptsache, das Ergebnis ist richtig. Außerdem soll es zügig vorangehen, der Rahmenplan zwingt zur Eile. Da bleibt wenig Zeit, verschiedene Lösungswege zu diskutieren und Fehler zu analysieren. Kommunikation aber führt immer auf eine höhere Ebene bei der Verarbeitung dessen, was man erfahren hat.

Wenn der Rahmenplan streng eingehalten wird, wie kann es dann passieren, dass ein Schüler die 10. Klasse verlässt, ohne einfachste Grundrechenoperationen zu beherrschen?

Im Einzelfall kann ich dies natürlich nicht erklären. Ich vermute, dass er in den schriftlichen Arbeiten sicher schlechte Noten bekommen oder sich durchgeschummelt hat. Mit fremder Hilfe erledigte Hausaufgaben retten ihm am Ende zwar den Durchschnitt, täuschen aber über das Problem hinweg. Oft merkt dann erst der Handwerksmeister im Lehrbetrieb, dass sein Azubi weder eine Fläche berechnen noch ein Gemisch im richtigen Verhältnis herstellen kann.

Warum wird die Rechenschwäche nicht eher erkannt?

Weil Lehrer in ihrer Ausbildung zu wenig darüber erfahren, wie mathematisches Lernen funktioniert, wo die Fallstricke liegen und an welcher Stelle beim Kind Verständnisprobleme auftreten können. Nach den Ergebnissen von Schuluntersuchungen haben bis zu einem Viertel der Schüler in den höheren Klassen bereits die elementare Mathematik in der Grundschule nicht verstanden. Über die Jahre potenziert, kann das Problem zu anhaltenden Versagensängsten, Lernblockaden und sogar zur Schulverweigerung führen.

Spätestens dann ist eine Therapie angezeigt. Wie gehen Sie dabei vor?

Zunächst untersuchen wir, wie das Kind beim Rechnen vorgeht. Wir analysieren seine Lösungswege und Denkweisen. Das daraus resultierende Rechenschwächeprofil wird ausführlich mit den Eltern besprochen, manchmal auch mit dem Mathematiklehrer. In der Therapie, einmal pro Woche, setzen wir dort an, wo das Kind ausgestiegen ist und unterstützen seine Denkprozesse mit anschaulichem Material. Wichtig ist, dass es das eigene Rechnen laut kommentiert und auch seinen Eltern erklären kann, wie und warum es zu einem Ergebnis gelangt ist. So kommt es in die ungewohnte Lage, einmal anderen etwas beizubringen. Ziel ist es, sein Selbstvertrauen zu stärken und den Anschluss an den Rahmenplan zu schaffen.

Dennoch bleibt Mathematik für viele Schüler die Schulzeit hindurch ein Angstthema.

Mathematik haben sich nicht Lehrer ausgedacht, um Schüler zu quälen. Rechnen ist eine Kulturtechnik, ein kulturelles Bedürfnis, mit dem Menschen viele Dinge in ihrem Zusammenleben regeln. Nur müssen diese Alltagsbezüge im Unterricht immer wieder hergestellt werden, zum Beispiel in Sachaufgaben oder später in der Verbindung mit Physik oder auch mit Soziologie, wenn Schüler Meinungsumfragen statistisch auswerten und dann hinterfragen können. So kann Mathe Spaß machen.Das Gespräch führte

Antje Horn-Conrad

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