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Aus dem GERICHTSSAAL: „Keiner der Fahrgäste schritt ein!“

Anklage: Politisch Andersdenkenden geschlagen und bedroht

Stand:

Während seiner eigenen Verhandlung vor dem Jugendgericht wollte sich Clemens C.* (21) nicht selbst zu dem Vorwurf äußern, am 13. Juni 2005 in der Straßenbahn mit vermeintlich Rechtsgerichteten einem Fahrgast gewaltsam seinen Aufnäher mit der Aufschrift „destroy fascism“ (den Faschismus zerstören) abgenommen zu haben. Am Nachmittag des selben Tages saß Clemens C. dann unter den Zuschauern des „Tram-Prozesses“ im Landgericht, verfolgte interessiert, welches Strafmaß der Staatsanwalt für seinen hier mitangeklagten, 20-fach vorbestraften, Kumpel Marcus Sch. forderte. Auch an jenem Sommertag soll der stadtbekannte Rechtsextreme Marcus Sch. in einem Wagen der Linie 93 mit dafür gesorgt haben, einen politisch Andersdenkenden einzuschüchtern. Dafür wird er sich demnächst ebenfalls vor dem Strafrichter verantworten müssen.

„Ich stieg am Hauptbahnhof in die Bahn und bemerkte, dass ich von fünf Leuten beobachtet wurde“, erinnerte sich das Opfer Benjamin B.* (21) im Zeugenstand. „Die unterhielten sich laut, dass man solche Aufnäher doch nicht tragen dürfe. Dann umringten sie mich. Einer schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, so dass meine Brille kaputt ging. Ein anderer riss mir den Aufnäher von der Jacke. Von den Fahrgästen in der Bahn ist keiner eingeschritten, obwohl ich Blickkontakt gesucht habe. Ich hatte Angst“, erzählte der Zeuge, der als Nebenkläger im Prozess auftrat. Als er an der Kunersdorfer Straße ausstieg, seien ihm die Angreifer, darunter der Angeklagte, gefolgt, hätten die Herausgabe eines weiteren „linken“ Aufnähers gefordert, ihn nochmals geschlagen und in den Rücken geboxt. Aus Angst vor weiteren Repressalien habe er ihnen das Verlangte ausgehändigt.

Drei der offenbar Rechten hatten sich während des Übergriffs mit Kapuzen und Sonnenbrillen vermummt, berichtete Benjamin B. Den Rädelsführer (Marcus Sch.) sowie den Angeklagten Clemens C. hingegen habe er bei einer Wahllichtbildvorlage der Polizei wiedererkannt.

„Mein Mandant möchte sich für die Art und Weise des Vorfalls entschuldigen“, ließ der Verteidiger im Namen von Clemens C. verlauten. Er und seine Freunde hätten in der Bahn „ein bisschen herumgeflachst“, sich über Benjamin B. lustig gemacht. „Jeder hat seine Sprüche abgelassen.“ Irgendwann sei es zu einer Rangelei gekommen, bei der ihm „irgendwer“ den Aufnäher abgerissen habe. „Mein Mandant hat den Geschädigten nicht geschlagen. Er hat auch nicht gesehen, wer ihn draußen in den Rücken geboxt hat“, betonte der Rechtsanwalt.

Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft vermutete, der bislang nicht vorbestrafte Angeklagte unterliege auch heute noch einem Gruppenzwang, was sein Aussageverhalten betrifft. Er plädierte dafür, das Verfahren vorläufig einzustellen und den derzeit Arbeitslosen zu verpflichten, 100 Sozialstunden nach näherer Weisung der Jugendgerichtshilfe abzuleisten. Das Gericht folgt diesem Antrag. (*Namen von der Reaktion geändert.) Hoga

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