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Im Wandel. Sprache wird in der Schulzeit auch zum Zeichen für Zugehörigkeit.

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Homepage: Kiezdeutsch ist nichts Neues Hochdeutsch wird durch Slang weiter entwickelt

Schon seit mehr als hundert Jahren gibt es Kiezdeutsch. Und zwar ganz offiziell, in den Fahrplänen der damals noch Deutschen Reichsbahn.

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Schon seit mehr als hundert Jahren gibt es Kiezdeutsch. Und zwar ganz offiziell, in den Fahrplänen der damals noch Deutschen Reichsbahn. Einträge wie „Bei allen Fahrten die Bahnhof Charlottenburg enden “ hat die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese bei ihren Forschungen dort gefunden. „Auch heute schreibt die Bahn nicht, dass die Fahrten ‚am’ Bahnhof Charlottenburg enden“, sagt die Professorin der Uni Potsdam. Das sogenannte Kiezdeutsch ist für Wiese eine ganz normale Weiterentwicklung der deutschen Sprache, die auf der gleichen Ebene rangiert wie andere Dialekte: Bayrisch, Schwäbisch, Plattdeutsch. „Bei der Forschung über Kiezdeutsch habe ich auf Erkenntnisse zurückgegriffen, die es bereits zu Dialekten gibt. Die funktionieren ähnlich und da ist sehr viel Forschungsmaterial vorhanden,“ stellte Wiese nun bei ihrem Vortrag im Einstein Forum fest.

Seit die Professorin Kiezdeutsch in den Fokus ihrer Untersuchungen gestellt hat, reißt das Interesse am sonst eher trocken Forschungsgebiet der Linguistin nicht ab. Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen in populären Medien werden dann gerne auch einmal drastisch kommentiert. „Das Problem, keiner von denen kann vernünftiges Deutsch“, äußert sich ein sprachlich nicht sonderlich versierter Leser auf Spiegel online. „Pseudowissenschaftlicher Mumpitz“, „Immigrantendeutsch“, „Quatsch mit Soße“ melden sich andere Leser zu Wort. Die Vermutung der meisten Kommentatoren, dass Kiezdeutsch eine „mangelhafte“ Variante der deutschen Sprache sei, widerlegt Wieses Forschung. „Dort gibt es Regeln, wie bei jedem Dialekt“, stellt die Forscherin fest. Auch variiere der Sprachgebrauch situationsbedingt sehr stark.

Als Wiese Jugendliche bat, einen Autounfall zu schildern, artikulierten sich diese ganz unterschiedlich – entsprechend dem jeweiligen Adressaten der Schilderung. Der Freundin schickten sie eine kurzsprachliche SMS im Kiezdeutsch-Slang. Dem Polizisten aber, der den Unfall zu Protokoll nahm, lieferten sie eine grammatisch völlig korrekte Schilderung des Geschehens.

Für Wiese steht fest, dass Kiezdeutsch meistens der lokalen Abgrenzung und Identifikation dient. Die meisten Sprecher seien problemlos in der Lage, sich auch „Hochdeutsch“ zu artikulieren. Wobei die Wissenschaftlerin im Verein mit ihrem Kollegen Uli Reich der Ansicht ist, dass es ein gesprochenes „Hochdeutsch“ eigentlich gar nicht gibt. „Das ist ein reines Kunstprodukt, das zwar im Duden konstruiert und im Grammatikunterricht an Schule gelehrt wird, aber so spricht niemand“, weiß Reich. Wer sich über Kiezdeutsch aufrege, meine meist nicht die Sprache, sondern den Sprecher, vermutet Wiese. Anders als früher orientiere sich eine Diffamierung des anderen nicht mehr am Äußeren, sondern an der Sprache. „Sprache ist hier ein Abgrenzungsmerkmal der Mittelschicht“, so die Hochschullehrerin. Wer „Hochdeutsch“ spreche, gehöre zur Mittelschicht und habe deutlich bessere Chancen, adäquate Jobs zu bekommen. Sprache werde als ein Werkzeug zur Ausgrenzung benutzt. Das funktioniere allerdings nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Staaten in gleicher Weise.

Zunächst vermutete Wiese, dass Kiezdeutsch stark vom Türkischen oder vom arabischen Sprachraum geprägt sei. „Das hat sich aber überhaupt nicht bestätigt. Wir haben nicht eine Redewendung oder grammatische Stellung gefunden, die daher stammt“, so Wiese. Auch würden sich viele derjenigen, die Kiezdeutsch sprechen, eigentlich als Deutsche fühlen. Erst das kulturelle Umfeld, der Kindergarten, die Schule, führe dazu, dass sich die heranwachsenden deutschen Staatsbürger als „Türken“ oder „Araber“ definierten, weil ihnen genau dies immer wieder vermittelt werde. Hier variiere die soziale Einordnung des kulturellen Hintergrundes zudem sehr stark. „Bei meinen Kindern hat noch niemand einen migrantischen Hintergrund vermutet, dabei bin ich mit einem Engländer verheiratet“, so Wiese. Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

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