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Beziehungen und Vereinzelung beschäftigen die jungen Filmemacher bei den „Sehsüchten“
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Der Bruch in der alltäglichen Zweisamkeit einer Beziehung oder der Wunsch nach Geborgenheit führen gelegentlich zu überraschenden Lösungen. Bei der 47-jährigen Silvi entwickelt sich im gleichnamigen Film der Sturm der Gefühle allmählich. Eines nicht so schönen Tages sitzt sie mit ihrem Mann im Auto, als der ihr verkündet, er werde die Nacht im Hotel verbringen. Die mehrere Jahrzehnte andauernde Ehe sei vorbei, für die Kinder und das gemeinsame Haus werde man schon eine Lösung finden.
„Du kannst doch jetzt nicht gehen!“, ruft sie ihm nach. Mit einer Bierflasche in der Hand zieht er dennoch von dannen. Die nächsten Jahrzehnte seien genauso vorhersehbar wie die vergangenen, deshalb verschwinde er, meint der Mann. „So schön kann doch kein Mann sein“, singt es ironisch im Hintergrund. Silvi begibt sich nun auf eine Entdeckungsreise mit deutlich sexueller Grundierung. Schließlich beschränkt sich ihr erotischer Erfahrungsschatz bisher ausschließlich auf ihren flüchtenden Ehemann. Die Buchhändlerin erblickt dabei ein buntes Kaleidoskop unterschiedlicher sexueller Spielarten. Immer wieder wird sie in ihren Erwartungen enttäuscht, ohne diese genau definieren zu können. Das unterscheidet sie von den Männern, denen sie begegnet. „Ein guter Ficker ist selten ein Dicker“, lobt sich eine ihrer flüchtigen Begegnungen. Andere zeigen auch nicht viel mehr Empathie für die Verlassene.
„Alles, was man auf der Leinwand sieht, ist so tatsächlich passiert“, behauptet der Regisseur Nico Sommer in einem Interview. Die Dialoge seien aus der Erinnerung der realen Frau übernommen worden, die als Vorbild für die Filmfigur gedient habe. Das Geld für seinen Film hat der Regisseur ausschließlich mittels Crowdfunding gesammelt. „Ich erträume mir staatlich unsubventioniert zu produzieren“, erklärt der Filmemacher. Deshalb baue er keine aufwendigen Szenenbilder, drehe an Originalschauplätzen und bemühe sich um einen möglichst authentischen Erzählton.
Wenn Sommer seine Protagonistin direkt in die Kamera sprechen lässt, vermischt er Dokumentation- und Kunstfilm, was dem Dargestellten eine besondere Glaubwürdigkeit geben soll. Dennoch stellt sich die Frage, ob mehrere Jahrzehnte Ehe, gemeinsame Kinder und Existenz so einfach mit einem Satz beendet werden können und ob die Vorgeschichte nicht interessanter gewesen wäre als die Selbsterfahrungsodyssee von Silvi.
„Einstein und Eva“ leben in dem Film von Lisa Schäffner in einer sonderbar kuscheligen Zweierbeziehung. Deren merkwürdigen ökonomischen Hintergrund offenbart der Film erst nach und nach. Susanne, die Eva des Films, ist die Puffmutter von Chris, also Einstein. An PC und Telefon organisiert die ehemalige Domina das Geschäft für den schlanken 27-Jährigen. Im Gespräch, anscheinend in der Arbeitswohnung des sonderbaren Teams gedreht, entwickelt sich ein Zweierszenario, das von amüsierter gegenseitiger Zuneigung getragen ist. Beide sehen wohl die individuellen Merkwürdigkeiten des anderen, sind aber vorsichtig um gegenseitigen Respekt bemüht. Auch wenn es Susanne ist, die letztlich das Geld zählt. Schäffner ist ein bemerkenswerter Dokumentarfilm gelungen, der im Verlauf immer stärker fasziniert: ein einfühlsames Portrait zweier Personen abseits der Klischees sexueller Ausbeutung.
Abseits aller vorgestanzten Schablonen spielt auch der Film „Don’t even think about it“ der Norwegerin Jannicke Stendal Hansen. Der ausgesprochen schön stilisierte und erzählte Film verwickelt seinen Antihelden Trond-Soeren in ein Geschehen, das in einem aufgeräumten Single-Appartement beginnt und auf einer Polizeistation endet. Auf dem Weg dazwischen passiert auch nicht viel, außer dass Trond-Soeren sich freiwillig zu einem Mord bekennt, den er nicht begangen hat.
Die charmant lächelnde füllige Polizistin hatte ihm das Leben im Knast derart rosig geschildert, dass Trond-Soeren darin einen verlockenden Ausweg aus seiner offenkundigen Leere und Beziehungslosigkeit sah. Hansen entwickelt ihre Humorgroteske mit deutlich surrealem Unterton. Dabei muss sie den Vergleich mit ihren Vorbildern Luis Buñuel oder Woody Allen nicht scheuen. Richard Rabensaat
Richard Rabensaat
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