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Auf dem „Sehsüchte“-Festival wurden auch Wege aus der eindimensionalen Realität gezeigt
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Volkmar sammelt Schlüsselanhänger und Kugelschreiber und allerlei andere Dinge, und zwar immer gleich in tausender Stückzahl. Sie stapeln sich in seinen Schubladen, hängen an Regalen oder lagern im Kühlschrank. Es scheint ein wenig, als wolle Volkmar sich vergewissern, dass er die Welt weiterhin greifen kann und sie ihm nicht entgleitet. Denn Volkmar Kirschbaum sitzt im Rollstuhl und flüchtet gelegentlich in Welten, die niemand anderem zugänglich sind. Kommt er dann wieder zurück, fragt er sich, ob er zu Hause oder doch wieder im Krankenhaus ist. Denn dort verbringt der 70-Jährige jedes Jahr mehrmals längere Zeit.
Volkmar Kirschbaum ist schwer krank, er leidet unter anderem unter Multipler Sklerose, Arthrose, Diabetes, Krebs und hat einen Herzinfarkt überstanden. Seine Frau ist vor einiger Zeit an Krebs gestorben und zahlreiche nahe Verwandte haben in den vergangenen Jahren ebenfalls das Zeitliche gesegnet. Aber Volkmar freut sich seines Lebens. „Wenn es so bleibt, wie es im Augenblick ist, würde ich gerne noch ein paar Jahre hier sein“, erklärt der „Testfahrer“, so der Titel des Films den Florian Arndt am Mittwoch beim „Sehsüchte“-Filmfestival gezeigt hat.
„Volkmar war so ungeheuer positiv, da kam ich sofort auf die Idee einen Film über ihn zu machen“, erzählt der 19-jährige Nachwuchsregisseur aus Mühlhausen in Thüringen. Das Porträt, das Arndt gedreht hat, schickte er als Bewerbung an die „Sehsüchte“ der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen (HFF). Seit seinem 12. Lebensjahr dreht Arndt Filme. Für „Testfahrer“ entstanden sechs Stunden Filmmaterial. „Der Schnitt dauerte allerdings 120 Stunden“, resümiert der zurückhaltende junge Mann.
Dass Arndt mittlerweile sieben Jahre praktische Filmerfahrung hat, ist dem Nachwuchsfilm deutlich anzusehen. Geschickte Fokussierungen, stimmungsvolle Kamerafahrten, ein punktgenauer Schnitt und eine Dramaturgie, die trotz des eher anspruchsvollen Themas die Spannung hält, das macht den Beitrag preisverdächtig.
Nach einer anderen, ihrer eigenen Welt sucht auch Lousia Pethke. Ihre Halbschwester Katharina Pethke begleitet die mittlerweile Gehörlose bei ihrem Weg zu einer neuen Lebensperspektive. „Lousia“ war nicht immer vollständig gehörlos. Ihr Hörsinn verschlechterte sich schleichend. Sie lernte sprechen und auch die Gebärdensprache, versuchte lange sich dem Klang und der Musik zu nähern. Einen Rapper begleitet Lousia bei seinen Studioaufnahmen, hält ihre Hand an seinen Rücken um die Vibrationen des Brustkorbes während des Gesangs zu hören.
Es gibt eine Möglichkeit, wie Lousia ihre Gehör wieder erlangen könnte, eine Operation, denn nur das Mittelohr ist defekt, der Hörsinn aber funktioniert. „Das ist so laut und so schrill“, kommentiert Lousia den Versuch des Arztes, ihr einen Eindruck von der Welt der Hörenden zu vermitteln, als er die entsprechenden Nerven stimuliert. Sie hat sich gegen die Operation entschieden, ein Studium der Gebärdensprache abgeschlossen und unterrichtet diese nun. Lousia will sich nicht mehr als behindert begreifen, so wie sie lange von ihrer Umwelt wahrgenommen wurde. Das Leben, dass sie jetzt für sich entdeckt, ist anders, aber nicht weniger reich und farbig. Deshalb kämpft sie bei Straßenaktionen für die vollständige Untertitelung des Fernsehprogramms, engagiert sich politisch für Gehörlose.
Der eindringliche Film von Katharina Pethke ist allerdings ein wenig lang geraten. Die Konzentration auf eines der Themen, die von der schwierigen Eltern-Kind-Beziehung über die Problematik der Operation bis hin zur politischen Anerkennung reichen, hätte nicht geschadet.
In ein Leben mit einem berühmten Vater träumt sich die kleine Laura in dem Film „My father is Björn Borg“ von Eli Rodriguez hinein. Björn Borg, der Tennisstar, sei ihr Vater hat die Großmutter dem Mädchen erzählt. Die alleinerziehende Mutter von Laura ist darüber nicht sonderlich glücklich. Aber als sie erkennt, dass nur der Glaube an den vermeintlichen Vater mit Stirnband und blonder Mähne das Mädchen von ihren Selbstzweifeln erlöst, ermutigt die Mutter es mit den Worten: „Schließlich bist du eine Borg“, doch an dem Schulturnier teilzunehmen. Rodriguez legt über ihren Film den Hauch des Märchenhaften und lässt ihn trotz der Lebenslüge versöhnlich ausklingen.
Eine Schauerstory ist allerdings der Film „Bäume und ähnliches“. Der Finne Markus Lehmusruusu begleitet in seinem fiktionalen Film einen namenlosen Mann in seinem grauen Alltag zwischen Bettenburgen aus Beton und von Neonlicht bestrahlten, aseptischen Arbeitsräumen. Nach der Arbeit werden Pornos geschaut, ein Gummiadler aus der Frittenbude liefert die Grundnahrung. Aus dem in Grautönen überaus stimmungsvoll durchstilisierten Ensemble findet der Protagonist schließlich das Schlupfloch. Vor einem verschneiten Wald tanzt er taumelnd auf einer weißen Fläche, berieselt von sanft herabfallenden Schneeflocken.
Richard Rabensaat
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