Von Henry Klix: Kleine Weltuntergänge
Nur jeder siebente Potsdamer Schüler möchte auf eine Oberschule – die Oberschul-Reform war anders gemeint
Stand:
Wer über die Zukunft seines Nachwuchses nachdenkt, sollte das gründlich tun. Gerade was die Schulzeit angeht, ist keine Grübelstunde vergeudet. Schließen die Kinder die zehnte Klasse ab, zählt nicht allein der Notendurchschnitt, sondern der schmale Pfad, auf dem er erlangt wurde. Sechs Schulnoten allein reichen der Ministerialbürokratie längst nicht aus, um die Fähigkeiten des Nachwuchses auszudifferenzieren. Entscheidend ist, welcher der drei Schulabschlüsse auf dem Zeugnis steht, ob und wie viele A-Kurse oder B-Kurse belegt wurden, wie viele Leistungspunkte in der Gesamtschule gesammelt wurden, ob sich im kooperativen Oberschulmodell für die EBR-Klasse oder rechtzeitig für die FOR-Klasse entschieden wurde.
Es kann zum Beispiel sein, dass der Zehntklässler mit einer Vier in Mathe besser rechnen kann als sein Kumpel mit einer Zwei. Es kann sein, dass ein Oberschüler, der mit 1,0 abschließt, nur eine Lehre beginnen darf, mit einem Durchschnitt von 2,7 aber aufs Gymnasium kommt. Schüler sollten das recht bald verstehen, Eltern sogar noch früher. In diesem Dschungel sollte man die Talente seiner Kinder besser kennen, bevor sie sichtbar werden. Man sollte vorher wissen, welche Fähigkeiten sein Kind zwischen dem zwölften und siebzehnten Lebensjahr auszubilden bereit ist. Spätzünder haben es schwer und verlieren sehr viel Zeit. Die erste wichtige Weichenstellung ist die Schulwahl. Zumindest da hatte die Landesregierung vor dreieinhalb Jahren etwas Ordnung auf dem Bildungsrummelplatz versprochen.
Rund zweimal im Jahr wird das Brandenburgische Schulgesetz geändert. Als mit der X-ten Schulgesetznovelle die Gesamtschulen und Realschulen zu insgesamt 233 Oberschule fusionierten, statt vier Schulformen nur noch drei bestehen sollten, wurde ein Hintertürchen offengelassen. Die 34 Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe – eine Handvoll Exoten im Land – sollten weiterbestehen dürfen, solange sie nachgefragt sind.
In Potsdam sollte aus dem Hintertürchen ein großes Tor werden: Denn während die Gesamtschulen mit Gymnasialstufe damals landesweit nur zwölf Prozent der Fusionskandidaten ausmachten, waren es in der Landeshauptstadt seinerzeit fast 40 Prozent. Der Exot ist hier zu Hause. Das bildungspolitische Konzept, dass ausnahmsweise auf Vereinfachung aus war, hatte in Potsdam von vornherein keine Chancen, zu greifen. Das Chaos war absehbar. Warum auch immer, saß das Rathaus als Schulträger das Problem einfach aus – auf einem wackligen Stuhl.
Seit der Oberschul-Reform wurden vier Potsdamer Oberschulen geschlossen, während die Klassenstärke anderer Schulen wuchs und wuchs. Inzwischen gibt es sogar mehr Gesamtschulen mit Abi (5) als Oberschulen (4) in der Stadt. Und der Trend hält an: Die Hälfte aller Kinder wurde für das kommende Schuljahr an Gesamtschulen mit Gymnasialstufe angemeldet, und auch die Gymnasien (36 Prozent) platzen aus allen Nähten. Dagegen wurden die vier verbliebenen Oberschulen nur von jedem siebten Schüler angewählt – und sitzen, während an Gymnasien und Gesamtschulen vier neue Klassenzüge gebildet werden sollen, am Katzentisch.
Selbst wenn man die grenzenlose Belastbarkeit der Potsdamer Lehrerschaft voraussetzt: Es sind vor allem Schüler, die geprägt werden, wenn sie erleben, dass ihre Schule nicht gewünscht ist, keine Siebtklässler nachrücken, dass sich hier allenfalls die Gescheiterten wiederfinden, die woanders keinen Platz bekommen haben.
Dabei war die Oberschule so wirklich nicht gemeint, lässt sie – besser noch als früher die Realschulen – alle Optionen für den Bildungsweg offen. Doch bei der massiven Konkurrenz von Gesamtschulen mit Gymnasialstufe verschwimmt das in einer schulpolitischen Fata Morgana. Die Möglichkeit des Abiturjahrgangs an einer Gesamtschule kapiert sich einfach leichter als die Erklärungsversuche märkischer Bildungkapazitäten. Ein bemerkenswertes politisches Lehrstück.
In einer Phase des demographischen Umbruchs ließen sich Unruhe und Schulschließungen sicher nicht vermeiden. Aber jetzt, wo sich die Anmeldezahlen stabilisieren, hätten die Beteiligten wieder etwas Frieden verdient. Jede Schule ist ein kleiner Mikrokosmos – mit ihren Lehrern, Schülern, Erfahrungswerten, Standorten und Konzepten eine wertvolle Welt für sich. Der politische Zugriff auf dieses System ist einfach, die Verantwortung der politischen Entscheider besonders groß.
Kein Schuldirektor, kein Lehrer, kein Schüler, keine Mutter und kein Vater kann etwas für das Gerangel. Doch sie gehören zu den Leidtragenden des löchrigen Potsdamer Weges zu einer Hackordnung für Kinder, die so nicht gewünscht sein kann. Gesamtschulen zu Oberschulen oder Oberschulen zu Gesamtschulen – eine konsequente Entscheidung muss her. Die Potsdamer Bildungspolitiker sollten sich den Schlaf aus den Augen reiben: Schulschließungen sind kleine Weltuntergänge. Die Zeit der Katastrophen muss ein Ende haben.
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