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Landeshauptstadt: Klopfzeichen im „roten Ochsen“

In der Gedenkstätte Lindenstraße 54 erinnern sich ehemalige Workuta-Häftlinge an ihre Haftzeit

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„Luxuszellen“ im Lindenhotel? Wer das sagt und weiß, wovon er redet, muss Übles erlebt haben. Immerhin, in dem ehemaligen Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes und später der DDR-Staatssicherheit sieht die Gruppe zumeist älterer Männer und Frauen sogar Betten mit Matratzen und Wasserklosetts. Nur im Keller, in den beiden Zellen aus der NKWD-Zeit, stehen Eimer – wenn auch mit Deckel – und Holzpritschen. Viele Teilnehmer der gegenwärtig in Potsdam stattfindenden Jahrestagung der Arbeitsgruppe ehemaliger Workuta- und Gulag-Gefangener runzeln die Stirn. Als sie in den Jahren um 1950 zumeist unter Spionageverdacht verhaftet wurden, mussten sie auf dem Knastboden schlafen. Als Toilette diente „ein abgeschnittenes Fass“, „eine Teekanne“, „eine Waschschüssel“, wie sie sich erinnern. Ob die Jugend denn angesichts der relativen Annehmlichkeiten des Stasi-Knastes überhaupt begreifen kann, wie es ihnen damals beim russischen Geheimdienst erging? Gedenkstättenreferentin Farina Münch verteidigt die heutige Generation: Wenn die Schüler von ihr aufgefordert werden, sich zu fünft auf die Holzpritsche zu setzen und sie ihnen dann erzählt, dass die Gefangenen sich freiwillig für den Kübeldienst meldeten, nur um kurz der Enge der Zelle entfliehen und sich neben dem Fäkalien-Kübel vielleicht sogar selbst kurz reinigen zu können – dann realisierten die jungen Leute schon, dass das kein Spaß war.

Anita Wille wurde mit 19 Jahren verhaftet, weil sie einen Mann liebte, der aus dem Westen kam. Sie saß zunächst im „roten Ochsen“ in Halle, einem ähnlichen Gefängnis wie das in der Lindenstraße. Sie kennt sehr gut, was Farina Münch über die Lindenstraße erzählt, dass sich die Gefangenen nur über Klopfzeichen verständigen konnten, ein Klopfton ist ein A, zwei ein B und so weiter. Das Morsealphabet kannten die wenigsten. Nach den 13 Monaten im „roten Ochsen“ wird Anita Wille für viereinhalb Jahren zum Gleisbau ins nordrussische Lager Workuta gebracht, verurteilt zu 25 Jahren Strafarbeit. 1955 kommt sie frei im Zuge der Verhandlungen Kanzler Adenauers in Moskau. Bei einer Weihnachtsfeier der Heimkehrer 1955 in Westberlin erzählt ein „Waldemar“, wie er einsaß im „roten Ochsen“ – und Anita Wille fragt: „Bist du der Waldemar aus Zelle 135?“. Sie hatte ihn vorher nie gesehen, kannte nur seine Klopfzeichen – und heiratete ihn, den „Waldemar“, und nicht den Mann aus dem Westen.

„Die parlamentarische Demokratie ist fehlerhaft“, erzählt Dietmar Bockel gestern Schülern der 10a der Lenné-Gesamtschule, „aber es gibt nichts Besseres“. Als 19-Jähriger haben er und Freunde von ihm Flugblätter angepinnt. Bei seiner Festnahme fragt er nach einem Haftbefehl. „Wir brauchen keinen“, sagen die beiden Männer und richten ihre Pistolen auf ihn. Nach Wochen in einer von undichten Toilettenrohren völlig durchnässten Haftzelle erfährt er sein Urteil: 25 Jahre Workuta. Vier Andere hören Todesurteile, die, wie er heute weiß, im Moskauer Butyrka-Gefängnis per Genickschuss vollstreckt wurden.

„25 Jahre machst du das nicht“, sagt sich Dietmar Bockel, als er im Sommer 1951 in Workuta ankommt, 60 Kilometer westlich des Urals und 100 Kilometer südlich des Polarmeeres. Doch der Selbsterhaltungstrieb ist stärker. Nach Stalins Tod streiken alle Gefangenen, hoffen auf Verbesserungen. Sie sind 500, stehen am Tor, ein junger Pole will eine Petition an die Offiziere überbringen, doch einer von denen zieht seine Pistole und erschießt ihn. Dann hämmern Maschinenpistolen, Bockel wirft sich zu Boden, bleibt unverletzt, 65 Gefangene sind tot.

Zurückgekehrt nach Westdeutschland, studiert der heute 77-Jährige, wird Vater zweier Töchter und Opa von fünf Enkeln. Einmal ging er eine Geschäftsstraße entlang und hörte plötzlich ein sehr lautes, knatterndes Geräusch. Dietmar Bockel warf sich intuitiv auf den Boden. Aber es war nur ein Rollo, das ein Ladenbesitzer abrupt heruntersausen ließ.

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