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Landeshauptstadt: Küchentisch, Kaffee, PNN

Hermann Hesse hatte sich angewöhnt, an jedem Morgen ein Gedicht zu lesen und in den Himmel zu schauen. Gut.

Stand:

Hermann Hesse hatte sich angewöhnt, an jedem Morgen ein Gedicht zu lesen und in den Himmel zu schauen. Gut. Viel besser als ich. Morgendämmerung, letzter Halbschlaf, leises Klappern an den Briefkästen. Ich stehe auf. Die Treppe hinunter und wieder hinauf, mit der druckfrischen Zeitung - hoffentlich begegne ich niemandem... Dann: Küchentisch, Kaffee, PNN.

Qua Beruf habe ich mir angewöhnen müssen, jeden Morgen in aller Frühe die Zeitung zu lesen – ein vergleichsweise minderes Vergnügen. Katastrophen aus aller Welt, denen ich nur durch Aufrichtung einer massiven Dämmschicht standhalte, provinzielle Petitessen von Stadt- und Landespolitik, die mich wiederholt aufstöhnen lassen, Kultur, auch ortstypische, meist gut beobachtet. Sonnabends zum Ausgleich für manche Entbehrungen die Kolumne von Pascale Hugues oder Roger Boyes und das lange Interview im Feuilleton. Potsdam interessiert mich an jedem Tag, trotz der Überlast an Joop- oder Tierheim-Berichten. Am besten ist es, wenn die Zeitung ihrer demokratischen Grundaufgabe gerecht wird und herausfindet, was im Dunklen wuchert. Junge Kollegen wundern sich, worüber ich so Bescheid weiß. Zeitung lesen und trotzdem selber denken hilft, sage ich. Gleich morgens.

Zum Jubiläum gratuliere ich der Zeitung, die zu meinem Alltag gehört und zu dem vieler andere Potsdamer, und wünsche ihr und mir – mit Blick nach Süddeutschland oder Zürich – eine noch schärfere Nah- und Fernsicht von den wortgewandtesten Autoren der Hauptstadtregion. Die nächsten 60 PNN-Jahre? Häutungen und Wandlungen durchstehen ohne dabei charakterlos zu werden, wenn dieses Kunststück gelingt, können sie gut werden.

Bärbel Dalichow

Museumsdirektorin Filmmuseum Potsdam

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