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Marcel Duchamp begründete neue Ästhetik
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Ist eine Gerade immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten? Die einfache Antwort: Befinden sich die beiden Punkte auf einer Kugel, natürlich nicht. Der französische Künstler Marcel Duchamp (1887-1968) war von solchen geometrischen Rätseln fasziniert. Er versuchte zu zeigen, dass die exakte Wissenschaft Grenzen hat. Eine dieser Grenzen ist unser unüberlegtes Verständnis von Räumlichkeit. Diese These erläuterte der Bochumer Kunsthistoriker Herbert Molderings unlängst in einem Vortrag im Potsdamer Einstein Forum. Er stellte sein neues Buch vor, das den Titel „Kunst als Experiment“ trägt.
Marcel Duchamp profitierte von der Tatsache, dass zu Anfang des 20. Jahrhunderts Mathematik und Geometrie starke Umbruchprozesse erlebt hatten. Mit den Publikationen des französischen Mathematikers Henri Poincaré setzte sich bei Künstlern die Erkenntnis durch, dass es Alternativen zu dem wohlbekannten dreidimensionalen Raum gab. Doch sei es eben dieser Raum gewesen, der die Malerei seit der Renaissance beschäftigt hatte, erläuterte Molderings. Während Poincaré aber der Meinung war, ein vierdimensionaler Raum ließe sich nicht adäquat darstellen, habe Duchamp hier eine neue Ästhetik gesehen. In Notizen über seine Werke stellte Duchamp Überlegungen zu vierdimensionaler Wahrnehmung an. Einem „vierdimensionalen Wesen“ müssten feste, dreidimensionale Körper als durchlässig erscheinen, meinte Duchamp. Er experimentierte mit Glas und durchlöcherten Leinwänden.
Überhaupt wollte Duchamp seine Kunst als Experiment verstanden wissen. Damit habe er zunächst in der Tradition der perspektivischen Darstellung in der Malerei gestanden, so Molderings. Mit wissenschaftlicher Genauigkeit hatten Künstler wie Albrecht Dürer an der Perspektive gearbeitet. Molderings hat recherchiert, dass Duchamp in Paris Lehrbücher zu dem Thema intensiv studiert hat. Glastafeln und Schnüre hatten den Malern der Renaissance dabei geholfen, die dreidimensionale Wirklichkeit auf das zweidimensionale Blatt zu bannen. Man benutzte dazu einen so genannten „Perspektivapparat“. „Drei Fäden bilden das Geheimnis der perspektivischen Abbildung“, sagte Molderings. Duchamp habe die räumliche Zeichentechnik aber als „Zwangssystem“ aufgefasst. Statt mit der einzig richtigen Darstellung, experimentierte Duchamp lieber mit der „unendlichen Möglichkeit“. Er habe den Zufall in die Geometrie einführen wollen, erläuterte Molderings. Duchamps Experimente sollten nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Sie seien, meinte Duchamp, „Pseudo-Experimente“.
Damit ging der Künstler Duchamp über die Ansichten des Mathematikers Poincaré hinaus. Indem er den Zufall in die Geometrie einführte, begründete Duchamp eine neue Ästhetik. Molderings zeigte dies an Beispielen aus seinem Schaffen. In dem Werk „3 Kunststopf-Normalmaße“ (1913/14) vereinen sich Sinn und Unsinn schon im Titel. Duchamp ließ Schnüre von einem Meter Länge auf die Leinwand fallen. Dort wurden sie so fixiert, wie sie gefallen waren. Zufall entstand also durch die Fallbewegung der Schnüre. Das Metermaß sollte ad absurdum geführt werden. Duchamp habe dies als seinen ersten Gebrauch des „Zufalls als Medium“ bezeichnet, so Molderings. Mit dieser „Anti-Malerei“ habe Duchamp gegen die „Verwissenschaftlichung der neuzeitlichen Malerei“ protestieren wollen. Allerdings nahm Duchamp sich bei diesem Projekt selbst nicht zu ernst. „Im Großen und Ganzen bin ich ein Pseudo“, soll er von sich gesagt haben. Mark Minnes
Mark Minnes
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