Landeshauptstadt: L. Wollersheim & R. Rittinghaus: Die verlorenen Akten – Teil 1 von 5
Beim „Storytausch“-Wettbewerb sind vergangene Woche die Gewinner gekürt worden. Bei den Klassen 7 bis 10 haben Lea Wollersheim und Robert Rittinghaus aus dem Schiller-Gymnasium mit „Die verlorenen Akten“ den ersten Platz erhalten.
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Beim „Storytausch“-Wettbewerb sind vergangene Woche die Gewinner gekürt worden. Bei den Klassen 7 bis 10 haben Lea Wollersheim und Robert Rittinghaus aus dem Schiller-Gymnasium mit „Die verlorenen Akten“ den ersten Platz erhalten. Den Preis unter den Schülern ab Klassenstufe 11 errangen Ann-Kristin Janssen und Patricia Pinter aus der Voltaire-Gesamtschule. Ihre Geschichte heißt „Einmal und immer wieder“. Auf den potsdambinich-Seiten werden die Siegergeschichten nun fortlaufend abgedruckt. Ab heute „Die verlorenen Akten“:
Stille. Es war absolute Stille im Klassenzimmer. Die Äste vor dem Fenster raschelten ganz sicher – davon war hier drin aber nicht zu hören. Verena sah versunken aus dem Fenster. Plötzlich ging die Tür auf und Verena riss es sofort aus ihren Träumen. Der Lehrer trat mit einem fremden Jungen, ein: „Das ist Phillip. Er ist neu hier. Ich möchte das ihr ihn in eure Klassengemeinschaft aufnehmt“, sagte der Lehrer. „Setz“ dich doch bitte neben Verena; in die vorletzte Reihe.“ „Ja, mach ich“, murmelte Phillip schüchtern. Im Verlauf der Stunde erläuterte der Lehrer, dass man demnächst seine Zensur mit Referaten aus dem Geschichtsunterricht erheblich aufbessern könne. Phillip, der Neuankömmling hatte die erste Wahl und entschied sich für Thema 9: Das Dritte Reich. Verena, seine Banknachbarin, wurde ihm auf höheren Befehl „zugeteilt“. Na dann. Man würde sich am Nachmittag bei Phillip treffen, um das Referat vorzubereiten.
Punkt drei Uhr klingelte Verena an der Tür mit dem Klingelschild „Dr. Ullmann“. Phillips Mama öffnete und kurz danach saßen die beiden über das Referat gebeugt. Ratlos. Der entscheidende Tipp kam von Phillips Mutter: „Seht doch mal in meinem alten Atlas nach. Irgendwo oben auf dem Spitzboden in den Kartons muss er noch liegen.“ Alles, worauf Verena jetzt überhaupt keine Lust hatte, war durch Spinnweben zu kriechen und in modrigen Papieren zu kramen. Phillip war voraus gestiegen und hatte sich den erstbesten Karton gegriffen. Gelangweilt nahm Verena sich den kleinsten vor. Er stand ganz hinten und war von alten Möbeln fast verdeckt. Obenauf lagen alte Akten – von einem Atlas keine Spur. Den Aktendeckel zierte ein Adler und darunter war ein komisches Kreuz. Ein Hakenkreuz! Was lag denn hier herum? Verena nahm den Ordner und zeigte ihn Phillip: „Was ist“n das?“ „Keine Ahnung.“ Phillip lugte interessiert über den Aktendeckel. Verena blätterte weiter. „Zeitungsausschnitte. Über irgendeinen Richter. Ullmann. Richter Horst Ullmann. Witzig. Heißt wie du!“. Phillip wurde bleich. „So heißt mein Opa.“„Warte mal, hier ist ein Zeitungsartikel und der ist noch gar nicht mal so alt. Horst Ullman ist tot! Der Nazi-Richter Horst Ullmann wurde gestern gegen Abend in seinem Haus in Dresden tot aufgefunden. Die Polizei geht von einem Gewaltverbrechen aus.““
Verena liefen kalte Schauer über den Rücken. Sie hatte das dringende Bedürfnis, so schnell als möglich dieses Haus zu verlassen. Mit einem Blick auf Phillip hielt sie inne. Ihr neuer Klassenkamerad war merkwürdig blass und wirkte völlig verstört. „Was ist los?“ „Meine Eltern haben immer ein Geheimnis um meinen Opa gemacht. Nie habe ich herausbekommen, warum. Nie wurde über ihn gesprochen. Und wenn, dann haben sie sofort geschwiegen, wenn ich ins Zimmer kam. Gestorben soll er in Bad Reichenhall bei einer Kur sein. Und das schon vor 20 Jahren!“ „Die Zeitung stammt von 2002“, warf Verena vorsichtig ein. „Da war ich schon 10 Jahre alt!“ Phillip setzte sich hin, um seine Tränen zu verbergen. Verena tat, als hätte sie nichts bemerkt und blätterte weiter. „Alles Zeitungsausschnitte von 2002. Hier steht, er soll erschossen worden sein! Vermutlich mit einer Waffe aus dem 2. Weltkrieg! Mehr steht nicht da.“
„Verenaaaaa. Deine Mutter hat angerufen. Schluss für heute.“ Phillips Mutter brachte sich in Erinnerung und holte die beiden in die Gegenwart zurück. Phillip quetschte sich ein „Bis morgen“ heraus und drehte sich um. Verena musste wohl oder übel gehen. Keine 10 Minuten später saß Phillip beim Abendessen. Seine Eltern plauderten angeregt über den Tag und bemerkten nicht, wie still und zurückhaltend sich Phillip an der Diskussion beteiligte. „Was ist? Wie war der erste Tag in der neuen Klasse. Schon Freundschaften gestartet?“ Dr. Ullmann wunderte sich über die Zurückhaltung seines Großen. Phillips Mutter beeilte sich, ihrem Sohn beizuspringen. „Na klar. Kaum einen Tag in der Schule, klingeln nachmittags schon die jungen Damen an der Tür!“ Phillip warf ihr einen wütenden Blick zu. Seine kleine Schwester ließ ein „Sie hat genauso blonde Zöpfe wie ich“ hören. „Du halt den Mund! Und im Übrigen: Wieso habt ihr uns Opa verschwiegen? Ich habe 10 Jahre lang einen Großvater und weiß davon nichts.“ Und wieder Stille. Absolute Stille am Abendbrottisch
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