WIEDEMANN bildet: Lasst uns Vorbild sein!
Wir sind mit unserem Enkel im Urlaub an der Ostsee. Er ist gerade drei Jahre geworden und zum ersten Mal zwei Wochen ohne seine Eltern.
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Wir sind mit unserem Enkel im Urlaub an der Ostsee. Er ist gerade drei Jahre geworden und zum ersten Mal zwei Wochen ohne seine Eltern. Sein Tagesrhythmus bestimmt die Zeitplanung unserer Urlaubstage, was ich durchaus als angenehm nach der Hektik der letzten Monate an der Spitze einer brandenburgischen Hochschule empfinde. Das tägliche Zusammensein mit Tom bringt allerdings andere Herausforderungen mit sich: Wann sollen wir dem sich gerade entwickelnden Willen Toms nachgeben, manifestiert in „Ich kann das!“, auch wenn die Gläser in unserer Ferienwohnung in Gefahr scheinen, und wann gebietet unser Erziehungsethos ein klares „Nein“? Ich versuche mich an mein Psychologie-Studium zu erinnern, während meine Frau in der Regel weit erfolgreicher die Erziehungserfahrungen mit unseren eigenen Kindern auf Tom adaptiert. Etwas können wir beide aber nicht verhindern: Tom ahmt uns nach! Er lernt am Modell Oma und Opa und zwingt uns damit über unser eigenes Verhalten nachzudenken.
Dazu kommt, dass unser Urlaubsort scheinbar flächendeckend mit elektrisch betriebenen „Ein-Euro-Simulationsgeräten“ (Pferde, Bagger, Busse, Schiffe, Hubschrauber) vollgestellt ist, die Tom wie viele andere Kleinkinder unbedingt nutzen will. Hier geht es nicht um ein Ausleben der eigenen Vorstellungskraft, sondern um kurzzeitige Bewegungsillusion! Ich finde, dass sich unser Urlaubsort damit wie viele Einkaufszentren und öffentlichen Orte in unserem Land an der Zerstörung von Phantasie bei Kindern um ein paar Steuereinnahmen willen beteiligt. Es ist schon erstaunlich, dass es bisher ganz gut gelungen ist, kleine Kinder vor vielen Dingen zu bewahren, die ihre Entwicklung beeinträchtigen könnten, die relativ teuren Simulationsgeräte aber ungehindert überall stehen können.
Unsere Urlaubszeit mit Tom bedeutet für mich manchmal auch: Vorlesen aus Bilderbüchern im Bett von Oma und Opa vor 8 Uhr! Die gestalterische Qualität der Bücher ist überzeugend, mir fällt allerdings auf, dass Märchen darin kaum eine Rolle spielen. Vielleicht werde ich also, wie bei unseren Kindern und meinen Nichten auch, Tom jeden Abend, wenn er bei uns oder mit uns ist, selbst erfundene Märchen erzählen. Da denke ich manchmal, dass Vorbildsein auch schwer sein kann.
Unser Autor Dieter Wiedemann ist seit zehn Jahren Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Er hat zahlreiche Publikationen zu Film und Fernsehen sowie zur Aufarbeitung und Wertung des DEFA-Filmerbes und des DDR- Kinderfernsehens verfasst.
Dieter Wiedemann
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