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SAMSTAGScocktail: Leben als Igel

Einer meiner Alpträume: Das Kind läuft auf die viel befahrene Straße. Ich kriege es gerade noch an der Kapuze zu fassen, aber es ist eine dieser abknöpfbaren KapuzenJetzt hat es an der Kreuzung vorm Kindergarten tatsächlich gekracht.

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Einer meiner Alpträume: Das Kind läuft auf die viel befahrene Straße. Ich kriege es gerade noch an der Kapuze zu fassen, aber es ist eine dieser abknöpfbaren Kapuzen

Jetzt hat es an der Kreuzung vorm Kindergarten tatsächlich gekracht. Ein Junge fliegt durch die Luft und landet auf dem Asphalt. Für einen kurzen Moment hören wir auf, es als naturgegeben hinzunehmen, dass Verkehrsmittel Vorrang vor der normalen körperlichen Bewegung haben. Vorausgesetzt, wir sitzen nicht gerade selbst am Steuer oder Lenker, fällt es uns im Unfallmoment wieder ein: Wir haben das Recht, nicht umgefahren zu werden. Erst recht kleine Kinder haben dieses Recht. Ha!

Bevor hierzulande ein Kind das Schulalter erreicht, hat es im Schnitt zehntausend Mal die Warnung „Vorsicht!“ gehört. Was für ein seltsamer Start ins Leben. Nicht so schnell! Lauf nicht allein! Stop! Zurück! Da vorne halt! Stop!!! Wir sind dermaßen daran gewöhnt, dass wir sogar in den freien Bewegungszonen, sprich auf dem Spielplatz, mit den mahnenden Lektionen weitermachen. Nicht mit dem Kopf zuerst rutschen! Nicht die Rutsche in umgekehrter Richtung hochklettern! Hier bleiben, da vorn ist die STRASSE!!!

Was wir und unsere Kinder als natürlich empfinden, ist in Wahrheit eingeschränkter Lebensraum. Der Soziologe Harald Welzer hat unsere Bewegungsunfreiheit einen unfassbaren Verzicht genannt, der einem in dieser Gesellschaft abverlangt wird. Umzäunungen, Grenzen, dazwischen niedliche Freiraum-Inseln. Im öffentlichen Raum werden wir in unseren Bewegungen immerfort beschnitten. Da wir selbst tagtäglich zu den Beschneidern gehören, fällt uns das allerdings nur selten auf.

Jetzt rüber? Doch lieber nicht. Vor oder zurück? Nähert sich das da hinten schnell oder langsam? Die Fragen, die sich die Passanten an der Kreuzung vorm Kindergarten stellen, sind genau die Fragen, die sich auch die letzten in Europa noch verbliebenen Igel Tag für Tag stellen (meist ist es ihr letzter).

Frösche bekommen einen Krötentunnel (deutsch: Amphibienunterführungsanlage), Fußgänger einen Zebrastreifen. Schilder und Vorschriften und Zwänge ohne die es augenscheinlich nicht geht. Paradoxerweise müssen wir uns wünschen, dass der Sicherheitsparcours, die schmalen Pfade unserer Freiheit in unseren Städten immer weiter verfeinert werden. Damit wir wissen, wo wir lang dürfen. Voller Dankbarkeit. Bis dahin am besten alle Mann huckepack und rüber.

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.

Julia Schoch

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