Homepage: Leben mit der Gewalt
Jan Philipp Reemtsma im Einstein-Forum
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Es steckt mehr Entsetzen als Erwartung einer Antwort in dieser Frage: Wie konnten ganz normale Familienväter zu Massenmördern werden? Fassungslosigkeit schwingt in dieser Frage mit. Fassungslosigkeit über die Verbrechen deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkrieges. Es sind die Worte „Familienväter“ und „Massenmörder“ die gegensätzlicher kaum sein könnten und in Zusammenhang gebracht, einen Abgrund aufreißen, in den man nicht hinab blicken möchte. Da ist etwas Unerklärliches geschehen, auf das keine Antwort zu finden ist.
Jan Philipp Reemtsma lässt dieses Entsetzen, das scheinbar Unerklärliche und die damit verbundene Sprachlosigkeit nicht gelten. Schon die Frage an sich, wie aus ganz normalen Familienvätern Massenmörder werden konnten, scheint ihm falsch gestellt, wie er bei seinem Besuch im Potsdamer Einstein Forum am Neuen Markt sagte. Denn sie verdecke die eigentliche Frage: Wie konnten diese Mörder ganz normale Familienväter werden? Es gehe nicht darum, das Rätselhafte der Katastrophe zu erklären, denn die Antwort darauf erscheint so simpel wie banal: Weil sich in Extremsituationen die Maßstäbe für Normalität verschieben können. Vielmehr gehe es darum, diese Katastrophe, diese Möglichkeit extremer Gewalt in unsere Normalität zu integrieren, also begreifbar und erwartbar zu machen.
Um sein neues Buch „Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“ vorzustellen, war Reemtsma, Literaturwissenschaftler und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, nach Potsdam gekommen. Ihm zur Seite hatte das Einstein Forum mit Herfried Münkler, Helmut Dubiel und Trutz von Trotha renommierte Wissenschaftler für eine Diskussion zur Seite gestellt. Doch wer im übervollen Einstein Forum Reemtsmas Buch schon gelesen hatte, den wird das Lob von Münkler, Dubiel und von Trotha nicht überrascht haben. Reemtsma hat mit „Vertrauen und Gewalt“ eine Zusammenfassung seiner jahrelangen Forschungen vorgelegt, die in ihrer Klarheit, Argumentation und der Selbstverständlichkeit, wie hier bestehende Forschungsansätze hinterfragt und neue Denkanstöße gegeben werden, Maßstäbe setzt.
Reemtsma beschränkt sich nicht auf soziologische Fragestellungen. Er zitiert Homer, Shakespeare, Thomas Mann und Walter Kempowski und holt so das scheinbar Abstrakte und Unerklärliche auf den Boden der Tatsachen zurück. Reemtsma verklärt nicht, will nicht, wie so oft bei derartigen Erklärungsversuchen, Gewaltphänomen verrätseln. Er zeigt, dass auch nach Auschwitz, nach den Gräueln des Zweiten Weltkrieges immer wieder mit Gewaltexzessen in der Moderne zu rechnen ist. So lange es Menschen gibt, kann es immer wieder geschehen.
Helmut Dubiel gab zu bedenken, dass Reemtsma sich in seiner Arbeit vor allem auf Extrembeispiele beschränke und die Frage offen bleibe, was das für die Forschung bedeute. Es ist die Stärke von „Vertrauen und Gewalt“, dass Reemtsma Gewalt in der Moderne in einen klar verständlichen Zusammenhang stellt, aber auf zukunftsweisende Allheilmittelantworten verzichtet. Dirk Becker
Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburger Edition, Hamburg 2008, 576 Seiten, 30 Euro.
Dirk Becker
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