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REITTHERAPIE UND LERNSCHWÄCHE: Lernen auf dem Pferderücken

Seelower Förderschule ermöglicht reittherapeutische Lebenshilfe im Unterricht

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Ähnlich wie bei der Delfin-Therapie geht es bei der Reittherapie um die ganzheitliche Verbesserung des Befindens und der Psyche. Der soziale Kontakt zu Tieren und der Umgang mit ihnen fördern den Befürwortern dieser Therapie zufolge Einfühlungsvermögen, Verantwortungsbewusstsein, soziales Verhalten und Selbstständigkeit.

Zielgruppe sind Kinder, Jugendliche oder auch Erwachsene mit körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklungsstörungen oder Behinderungen. Wenn das soziale Umfeld - speziell die Eltern - sich wenig um die Kinder kümmern, sie durch Bewegung, Sport und geistige Anstrengungen nicht fördern, kann das zu Lernschwächen und Verhaltensauffälligkeiten führen. ddp

Seelow - Christian übt Einparken. Der 13-Jährige sitzt jedoch nicht etwa hinter dem Lenkrad eines Autos, sondern auf dem Pferderücken von „Dasha“. Mit seinen Körperbewegungen und den Zügeln dirigiert der schmächtige Junge die braune Stute in eine Lücke, die auf dem Boden der Marxdorfer Reithalle durch bunte Rollen begrenzt ist. Vorwärts geht das scheinbar kinderleicht. Als das Tier jedoch rückwärts wieder hinausgehen soll, macht „Dasha“ nicht, was Christian will. Was aussieht wie ein gewöhnlicher Reitunterricht, hat jedoch einen anderen Hintergrund. Christian hat Lernschwierigkeiten und besucht deshalb die Kleeblatt-Förderschule in Seelow. Um diese Probleme besser zu meistern, wagt er sich auf den Rücken des Pferdes.

„Achte auf Deine Körperhaltung, mach Dich groß“, rät Reittherapeutin Sabine Tegge, die das Pferd lose an der Longierleine hält. An Selbstvertrauen und der Fähigkeit, sich zu konzentrieren, fehlt es dem Jungen allerdings. Konsequent die Führungsposition zu übernehmen, ist für ihn eine der schwierigsten Übungen. Im Schulalltag zeigen sich seine Defizite: Er ist verschlossen, kann sich nicht durch- oder mit anderen auseinandersetzen und hat schlechte Leistungen.

Weil er beim Lernen nicht so schnell hinterher kommt, geht Christian – wie 138 anderen Mädchen und Jungen aus dem Oderbruch – auf die Seelower Förderschule. Die meisten von ihnen stammen aus einem sozial schwierigen Umfeld und leben nicht mehr bei den eigenen Eltern.

Das therapeutische Reiten ist für Christian und vier seiner Mitschüler ein reguläres Unterrichtsfach – bisher einmalig im Land Brandenburg. Nach den Osterferien werden vier weitere Schüler in den Genuss dieser besonderen Lebenshilfe kommen, die durch das Engagement von Schulleiterin Simona Koss und die Unterstützung von Sponsoren aus der Region möglich geworden ist. „Die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht, weil diese Art der Therapie als Heilmittel nicht anerkannt ist“, sagt sie.

Hauptkritikpunkt seien die hohen Kosten ohne nachgewiesenen höheren Nutzen als zum Beispiel Physiotherapie, bestätigt der Kinderarzt Jens-Uwe Köhler aus Erkner. Dennoch unterstützt er das Pilotprojekt der Kleeblattschule, engagiert sich in einem begleitenden Beirat. „Die Bewegung auf dem Pferd vermittelt das Gefühl körperlicher Wärme und Nähe sowie Körperbeherrschung. Zu beobachten ist ein heilender Effekt“, sagt der Mediziner.

„Mit dem Vertrauen zum Pferd wächst das Selbstvertrauen der Schüler“, sagt Reittherapeutin Tegge. Von der therapeutischen Wirkung der Tiere ist auch Koss überzeugt. Vielen ihrer Schüler fehle von Haus aus die Nähe zum Tier, und Reitstunden könnten sie sich schon gar nicht leisten, sagt die Schulleiterin. „Das Pferd ist der eigentliche Therapeut“, macht Tegge deutlich. Sei der Mensch zu forsch, ziehe sich das Tier zurück, sei er zu schüchtern, übernehme das Pferd die Führung. Diese Erfahrung muss auch Katrin machen. Das introvertierte Mädchen traut sich wenig zu, wirkt im Pferdesattel verunsichert. Schon bestimmt Therapiepferd „Meike“ die Richtung in der Reithalle.

Zum Ende der zwei Unterrichtsstunden auf dem Pferderücken lassen sich erstaunliche Veränderungen beobachten: Katrin sitzt nicht mehr verkrampft auf dem Pferd, die Zügel angstvoll um die Hände gewickelt. Statt dessen verschränkt sie lächelnd beide Arme hinter dem Kopf, oder sie umschlingt mit beiden Armen den Pferdehals.

Reiten konnte die 14-Jährige vor dem Unterricht auf dem Reiterhof in Marxdorf nicht. Auch jetzt ist Therapeutin Tegge stets an ihrer Seite. „Ziel ist nicht, dass die Schüler perfekt Reiten lernen, sondern dass sie an sich selbst arbeiten. Und zwar gern und ohne es direkt zu merken“, sagt sie. Veränderungen haben Lehrer und Erziehungsberechtigte bei Katrin und den anderen Reittherapie-Schülern schon bemerkt. „Sie haben eine viel selbstbewusstere Körperhaltung, treten ganz anders auf, sind offen und erzählen von sich aus, klar und deutlich“, fasst die Schulleiterin zusammen. Dabei gehe es nicht in erster Linie um bessere Zensuren. Was die Mädchen und Jungen auf dem Pferderücken lernen, würden sie im späteren Leben gut gebrauchen können, ist Koss überzeugt. Sie hofft, dass sich wohltätige Stiftungen für dieses ungewöhnliche Lern-Förder-Projekt interessieren, damit die Reittherapie auch langfristig an der Seelower Kleeblatt-Schule angeboten werden kann.

Ihr kurzfristiger Traum ist allerdings die Finanzierung von vier Tagen Ferien für einige Schüler auf dem Reiterhof in Marxdorf.

Bernd Kluge

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