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SAMSTAGScocktail: Liebe Kinder

damals waren nicht wenige feige. Natürlich sagte man das nicht so.

Stand:

damals waren nicht wenige feige. Natürlich sagte man das nicht so. Die meisten nannten es individualistisch und fanden daran nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Dabei war es eine Zeit, in der allerorten über Werte debattiert wurde, über „gesellschaftliche Herausforderungen“, manchmal wurde sogar eine „solidarische Gemeinschaft“ beschworen! Leider waren die, die für diese Fragen zuständig gewesen wären, oft mit sich selbst beschäftigt. Zwangsläufig. Denn sie hatten keine oder nur lumpig bezahlte Kurzverträge, sodass sie kaum über den Rand ihrer eigenen Buchstabensuppe guckten. Als wäre das nicht schon schlimm genug, sägten die Geistesarbeiter in ihrer Angst und Vereinzelung auch noch selbst am Bein des Drehstuhls, auf dem sie saßen.

Um gegen freche Kürzungen zu protestieren, wurde ein Brief an den Chef eines großen Bildungsinstituts verfasst. Alle sollten sich solidarisieren. Da fanden aber nun einige hier und da Begrifflichkeiten schlecht gewählt. Man schrieb den Brief um. Nun fragten andere zögerlich, ob man so nicht den Bemühungen der Abteilungsleiter in den Rücken fiele. Schließlich versuchten die doch in Absprache mit dem Chef das Schlimmste zu verhindern. Natürlich ging es nicht darum. Der eigene Name unter solch einem Brief – womöglich landete man mit dieser Unterschrift noch in Teufels Küche! Schließlich standen draußen immer schon genug Leute in der Warteposition. Der Brief wurde nicht abgeschickt, und ein jeder ging nach Hause. Selbst die Unbetroffenen mit einem festen Posten sagten nichts. Viele waren ehemalige 68er, sie hatten lockere Umgangsformen, sie waren nett. Aber Wörter wie Kollektiv oder Solidarität bereiteten den meisten Unbehagen. Es war eine Art angeborene Angst, ein Zögern ohne Not. Irgendwie waren sie es gewohnt, sich alleine durchzuschleichen, wie feuchte, schlüpfrige Seife, die immer die Hoffnung hat, sie möge im marmornen und nicht in dem ollen Schälchen aus Plaste landen. In jener Zeit war jeder seines Glückes Schmied (was die Wenigsten ironisch auffassten). Das Schlimmste aber war, dass die Betreffenden selbst aufhörten, an sich und ihre Berufung zu glauben. Sie glaubten nicht mehr, dass sie den Menschen etwas zu erzählen hätten, dass sie zu Höhenflügen in der Lage seien, für die eine gewisse Seelenruhe nötig ist. Anno 2014.

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“.

Julia Schoch

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