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Pascal Loerch.

© Carsten Holm

Flüchtlingshilfe aus Potsdam: Manchmal kommen Hunderte pro Tag

Der Potsdamer Erzieher Pascal Loerch half vier Wochen in einem Camp der Uno-Flüchtlingshilfe auf der griechischen Insel Lesbos. Die Reise hat ihn „auch für das Elend hier sensibilisiert“.

Potsdam - Pascal Loerch steht auf einer Anhöhe im Norden der griechischen Insel Lesbos an einem Teleskop, weit unter sich das satte Blau der Ägäis. Er sucht das Meer nach den Schlauchbooten der Flüchtlinge ab, die gegenüber, etwa zwölf Kilometer entfernt, an der türkischen Küste in See stechen. In etwa drei Stunden sind sie auf Lesbos. Sie kommen Tag für Tag, manchmal sind es Dutzende und manchmal Hunderte. Wenn er sie ortet, schlägt er Alarm.

Loerch gehört zu den Freiwilligen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), er überwacht einen etwa acht Kilometer langen Küstenabschnitt. Über Funk informiert er die Kollegen darüber, in welchem Bereich die zumeist völlig überladenen Boote anlanden werden. Dann machen sich die Ersthelfer, Frauen und Männer des sogenannten First-response-Teams, auf den Weg, und versorgen die oft durchnässten Menschen am Strand mit dem Nötigsten.

Suche nach Booten im Dunkeln

Der 33 Jahre alte Potsdamer, der seit Anfang Dezember als Erzieher im DRK-Kinderheim „Heimatstern“ arbeitet, hat die Zeit im Oktober und November vor seinem Arbeitsantritt genutzt, um die UN-Organisation vier Wochen lang zu unterstützen. Daheim engagiert er sich bei der Initiative „Seebrücke“ für die Aufnahme von Menschen, die aus Seenot gerettet werden und für die Flüchtlingshelfer von „Potsdam-Konvoi“. Der „Konvoi“ hat ihm 720 Euro Unterstützung für seine Reise nach Lesbos gewährt. 340 Euro hat allein der Flug gekostet, der Besitzer eines einfachen Hotels überließ ihm ein Zimmer mit „Helfer-Rabatt“ zum Tagespreis von zehn Euro. „Ich hab draufgezahlt“, sagt Loerch, „aber das war es mir allemal wert“.

Loerch wurde nach seiner Ankunft einem Team von 27 Helfern zugeteilt, sie waren unter anderem für das „Spotten“ der Boote am Teleskop und nach Einbruch der Dunkelheit an einem Nachtsichtgerät zuständig. Sie versorgten die Geflüchteten in dem „Stage 2“ genannten Zwischenlager, bevor die in das große Lager Moria gebracht wurden.

1800 Menschen kamen in seiner Zeit auf Lesbos an

Gleich in seiner ersten Nacht auf Lesbos eilt Loerch mit Kollegen zum Strand. Zum Team gehören ein spanischer Medizinstudent, ein holländischer Ingenieur und eine spanische Hebamme. Zwei Boote sind angekommen, ein älterer Mann ist unterkühlt: „Ich half ihm aus den nassen Klamotten, wickelte ihn in eine Decke und gab ihm trockene Kleidung“. Es werden Wärmedecken ausgeteilt.

Auf dem „Lifejacket graveyard“ lagern rund 150.000 Rettungswesten. 
Auf dem „Lifejacket graveyard“ lagern rund 150.000 Rettungswesten. 

© Owen Humphrey/dpa

Auf die gerademal acht Meter langen Schlauchboote mit einem Außenbordmotor quetschen sich oft 40 bis 55 Menschen, „sie lagen auf- und übereinander“, sagt Loerch. Im Lauf seiner Zeit vor Ort steigen rund 1800 Geflüchtete aus Afghanistan, Iran, Irak und Syrien im Norden von Lesbos aus den Booten; 900 von ihnen sind Kinder, 120 unbegleitet. „Ganze Familien mit Großeltern, Gelähmten und geistig Behinderten wagten die Flucht über das Mittelmeer“, erzählt Loerch, „die meisten stammten aus Afghanistan“.

Die Menschen kamen ausgehungert an

Sie erzählen, dass sie 900 US-Dollar für die zwölf Kilometer aus der Türkei auf die griechische Urlaubsinsel bezahlt hätten, andere sprechen von 9000 Dollar. „Übertreibung gehört in diesem Kulturkreis dazu“, sagt Loerch. In „Stage 2“ werden alle mit Tee, Crackern, Datteln, Rosinen und Tunfischdosen versorgt. „Die Menschen kamen fast immer ausgehungert an, sie hatten sich auf der türkischen Seite in Wäldern versteckt, ehe sie von den Schleppern das Kommando zum Besteigen der Boote bekamen.“

Zumeist bleiben die Neuangekommenen nur einen Tag in „Stage 2“. Dann geht es weiter in das große Camp, das die „Hölle von Moria“ genannt wird, seit Ende September ein Feuer ausbrach und eine Mutter und ihr Kind starben. Es ist für 3000 Menschen ausgelegt, 18.000 hausen dort jetzt „inmitten von Staub und Verzweiflung, in einem Slum wie in einem Entwicklungsland“, wie es Tagesspiegel-Redakteurin Annette Kögel nach einem Besuch beschrieb. Für 200 Flüchtlinge gibt es eine Toilette, für 500 eine Dusche, hat die „Bild“-Zeitung notiert.

Er appellierte an die Stärke der Menschen

„Moria ist wie die ganze Flüchtlingspolitik die Schande Europas“, sagt Loerch. Er weiß um die Situation und tut sich schwer, angemessen zu antworten, wenn Flüchtlinge ihn nach ihrem nächsten Aufenthaltsort fragen: „Ich habe ihnen gesagt, dass sie starke Menschen sind. Und dass sie in Moria stark sein müssen.“

Loerch, den Erzieher, „erfüllt es sehr, den vielen Kindern Freude zu bereiten“. Er faltet mit den vier bis acht Jahre alten Mädchen und Jungen, von denen die meisten noch nie ein Spielzeug besaßen, Flugzeuge, Schiffe und Schmetterlinge aus Papier, er zeichnet und singt deutsche Kinderlieder wie „Händewaschen, Händewaschen, muss ein jedes Kind“ mit ihnen.

Jede Weste steht für das Schicksal eines Menschen

An einem freien Nachmittag macht sich Loerch über holprige Straßen auf den Weg in Richtung des Dorfes Mithymna. Der Potsdamer erlebt den Ort als „Deponie und Mahnmal“ zugleich. Zwischen den Hügeln, hoch über der Ägäis, liegen dort rund 150.000 signalrote Rettungswesten wie stumme Zeugen der Katastrophe, die leuchtenden Überbleibsel von Fluchtversuchen der Verzweifelten.

Als „Lifejacket graveyard“, Friedhof der Rettungswesten, ist dieser Platz weltweit bekannt geworden, an seinem Eingang liegen zahlreiche demolierte und zerfetzte Schlauchboote. „Man muss sich das immer wieder klarmachen“, sagt Loerch: „Jede einzelne Weste steht für das Schicksal eines Menschen.“

Pascal Loerch ist bedrückt, wenn er jetzt, nach seiner Rückkehr, über die Zeit auf Lesbos spricht. „Es war eine der prägendsten Erfahrungen meines Lebens“, sagt er, „es ist wichtig zu wissen, dass es anderen schlechter geht als uns und vor allem: wieviel schlechter als uns“.

Auch für das Elend hier sensibilisiert

Die jüngsten Vorstöße von Grünen-Chef Robert Habeck und des niedersächsischen Innenministers Boris Pistorius (SPD), auch im deutschen Alleingang Kinder aus den überfüllten griechischen Lagern aufzunehmen, begrüßt er. „Wir müssen möglichst vielen, die mit den Booten kommen, wie Potsdam es tut, sichere Häfen bieten, in denen sie heimisch werden können.“

Die Reise nach Lesbos hat Loerch „auch für das Elend hier sensibilisiert“. Er spendet seither mehr für die Obdachlosen auf Potsdams Straßen. Seinen Jahresurlaub 2020 will er „ganz sicher“ wieder in Griechenland verbringen, um Flüchtlingen zu helfen.

Carsten Holm

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