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SAMSTAGScocktail: Mein Jahrweiser

Ich habe nie zu den Menschen gehört, die imstande sind, den Augenblick zu genießen. Jetzt ist das Jahr auch schon wieder vorüber, denke ich Ende November und hänge einen frischen Terminplaner an die Wand im Flur.

Stand:

Ich habe nie zu den Menschen gehört, die imstande sind, den Augenblick zu genießen. Jetzt ist das Jahr auch schon wieder vorüber, denke ich Ende November und hänge einen frischen Terminplaner an die Wand im Flur. Einen jener überdimensionierten Lehrerkalender im Plakatformat. Auf denen ist der Dezember des alten Jahres in der vordersten Spalte aufgeführt, sozusagen als erster Monat, sodass sich die Termine problemlos ins neue Jahr mit hinübernehmen lassen. Auf diese Weise fällt der Bruch am Jahresende gar nicht weiter auf. Wenn der erste Schnee fällt, denke ich mit Wehmut an den Sommer. An den kommenden natürlich. In dem ich mich wiederum in einen klaren Wintertag hineinträume usw. usf. Ich lebe aber nicht nur auf fatale Weise in die Zukunft hinein. Das Ganze läuft auch rückwärts. An dieser Stelle kommt wieder der Kalender ins Spiel. Der nämlich wird, sobald die Termine verstrichen sind, zu einer Art Gedächtnisplakette. Seit geraumer Zeit versuche ich mich selbst zu verpflichten, nicht bloß Lesungen, Interviews, Reisen, Impftermine oder Verabredungen mit Freunden einzutragen, sondern auch das Wetter. In den Aufzeichnungen zeitgenössischer Buch- und Tagebuchschreiber wird das Wetter ja eher stiefmütterlich behandelt. Immer gibt es Wichtigeres. Für mich ist das Wetter ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Nicht nur seitdem ich mit Kindern zusammenlebe (das Stimmungsbarometer einer Familie verhält sich direkt abhängig von den meteorologischen Gegebenheiten), nein, bei mir entfacht die Erwähnung, sagen wir: heftiger Sturm, Plastiktüten treiben durch die Luft, eine klarere Vorstellung von dem, was stattgefunden hat als die Angabe: Treffen wg. Buchbespr. m. A. K. Nichts ist uninteressanter als das Wetter von gestern. Flüchtig und vorbei. In der Tat: Weiß noch jemand, wie es, sagen wir am 20. Januar 2012 über Potsdam aussah? Bitte: noch immer kein Schnee. Trübster, furchtbarer Himmel. Oder: Seltsam kühl, es nieselt vor sich hin, Fließoverall fürs Baby wieder rausgeholt (26. Juni). Oder: Brüllend heißer Tag. Vor drei Tagen noch unter tropfenden Bäumen in Sanssouci (20. August). Die Zeitrechnung der aktuellen Geschehnisse hat nichts zu tun mit der Zeitrechnung der Erzählung. Und: Sie hat mir vor Augen geführt, dass ich noch nie so wenig unterwegs gewesen bin wie in den letzten zwölf Monaten. Ein Jahr lang in der Stadt. Hatte ich gar nicht gemerkt.

Unsere Autorin lebt in Potsdam. Ihr neuer Roman heißt: „Selbstporträt mit Bonaparte“.

Julia Schoch

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