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Migräne-Symposium in Potsdam: „Migräne wird immer noch ein bisschen belächelt“
Etwa acht Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Migräne. Lucia Gnant organisiert als Präsidentin der deutschen Migräne-Liga ein Symposium in Potsdam und spricht im Interview darüber, was Ursachen von Migräne sind und wie Betroffene den Alltag trotzdem meistern können.
Stand:
Frau Gnant, Sie haben einmal gesagt, Migräne sei immer noch mit einem Tabu belegt.
Es ist noch nicht so, dass sich jeder in Deutschland dazu bekennt. Migräne wird immer noch ein bisschen belächelt, aber es ist besser geworden. Bei Veranstaltungen stelle ich mich mittlerweile so vor: Ich bin Lucia Gnant, selbständige Kauffrau, und ich habe Migräne.
Migräne ist doch mittlerweile als neurologisch-chronische Erkrankung anerkannt. Wieviele Menschen in Deutschland leiden darunter?
Geschätzt sind es acht Millionen Menschen. Ich glaube, die Zahl liegt deutlich darüber, weil viele nicht wissen, dass sie Migräne haben. Auch viele Mediziner tun sich nach wie vor schwer damit, sie zu diagnostizieren. Mittlerweile sind die Betroffenen aber besser informiert.
Wer ist hauptsächlich betroffen?
Das geht quer durch die Bevölkerung. Allerdings sind ein Drittel der Betroffenen Männer, zwei Drittel Frauen. Was uns große Sorgen macht, ist, dass immer mehr Jungen und Mädchen Migräne haben. Früher fing die Erkrankung in der Pubertät an, heute bereits im Kindergartenalter. Ein häufiges Zeichen bei Kindern ist, dass sie sich erbrechen und zurückziehen.
Warum beginnt das heute früher?
Das hängt mit Reizüberflutung zusammen. Früher gingen Kinder in den Park zum Spielen. Heute beschäftigen sie sich überwiegend mit Elektronik. Ein weiterer Grund ist die industriell hergestellte Nahrung, früher wurde noch selber gekocht.
Was gilt nach neuesten Erkenntnissen als Ursache für Migräne?
Migräne ist eine chronisch-neurologische Erbkrankheit. Sie muss aber nicht zum Ausbruch kommen. Das hängt von der Lebensweise ab.
Spielt das Wetter tatsächlich eine so große Rolle, wie immer behauptet wird?
Weil viele danach fragen, thematisieren wir das auf dem Symposium in Potsdam. Die Fachleute sagen immer, das Wetter spiele keine Rolle. Wir Betroffenen aber sind da anderer Meinung. Wenn es sehr kalt war und plötzlich warm wird, liegen wir flach. Bei uns funktioniert das Gehirn wie eine Festplatte, die dauerhaft läuft. Wir nehmen zu viele Reize auf – und dann gibt es den Absturz. Das ist wissenschaftlich nicht untersucht.
Wer Migräne hat – so das gängige Bild – sollte sich hinlegen, den Raum abdunkeln, braucht Ruhe. Stimmt das?
Man sollte nicht, man macht das. Weil das die einzige Möglichkeit ist, diese grauenhaften Kopfschmerzen zu ertragen. Der ganze Körper ist in Mitleidenschaft gezogen, alles stört: Geruch, Licht, Lärm, Bewegung. Man wartet, bis es vorbei ist. Früher gab es ja auch noch keine Medikamente.
Wie hat sich die Behandlung verändert?
Meine Großmutter ist früher, wenn sie Migräne hatte, von der Bildfläche verschwunden. Ich hatte meinen ersten Anfall am 27. Februar 1974. Ich wusste nicht, dass es Migräne ist. 15 Jahre später wurde sie erst diagnostiziert. Davor habe ich mich mit allem Möglichen behandelt. Vor 20 Jahren wurden die ersten Medikamente speziell für Migräne entwickelt.
Welche?
Triptane: Das sind nachgebaute körpereigene Mittel, die den Serotoninspiegel anheben. In Deutschland gibt es sieben an der Zahl, jeder sollte das richtige für sich finden.
Was tun bei einem akuten Anfall?
Die Migräne gehört in die Behandlung von einem Facharzt. Die meisten Betroffenen aber gehen in die Apotheke.
Welche Rolle spielt Vorbeugung?
Eine große Rolle – sie macht den Hauptanteil der Migränebehandlung aus. Es gibt zum Beispiel gute pflanzliche Mittel. Wichtiger ist aber die Lebensführung. Ich habe mir jetzt etwas zu essen bestellt, statt mit leerem Magen auf die Autobahn zu fahren. Viel trinken ist gut, An- und Entspannung im Gleichgewicht halten. Ich bin seit Tagen unterwegs. Ich darf mir nicht auch noch das Wochenende vollstopfen. Während ich unterwegs bin, unterstützt mich zu Hause eine Putzhilfe.
Welchen Erfolg haben Sie damit?
Ich habe seit 7. Juli 2010 keine Anfälle mehr. Ich bin medikamentös eingestellt und trage immer ein Notfallmittel bei mir in der Tasche. Wenn ich während der Fahrt eine Aura bekomme (Migräneanfall kann sich durch Sehschwäche ankündigen, A.d.R.), fahre ich gleich rechts ran, weil ich dann 20 Minuten lang nicht mehr richtig sehe. Dann benutze ich ein Nasenspray – und kann nach etwa zwei Stunden weiterfahren.
Welche Tipps haben Sie für die Entspannung im Alltag?
Eine Pause einlegen. Abends eine Runde um den Block gehen, wenn man den ganzen Tag im Büro verbracht hat. Sich eine Sportart suchen, die einem gefällt. Das größte Problem des Migränekranken aber ist: Er kann nicht Nein sagen. Ich rate dazu, das Leben zu entmüllen und sich von Dingen zu trennen, die man nicht mehr braucht.
Das klingt so, als würde man eher eine Therapie als Medizin brauchen...
Eher einen Coach, mit dem man bespricht, was zu tun ist. Zum Beispiel, sich von einer Freundin trennen, die nie für einen da ist, wenn man sie braucht – einen aber selber auslaugt.
Welche Rolle spielt Migräne in der Forschung?
Es gibt zwar europaweit und in den USA Forschungsprojekte. Aber Migräne ist nicht so ein interessantes Feld, weil man daran nicht stirbt.
Was muss noch erforscht werden?
Die Ursache. Wichtig wäre auch, neue Medikamente auf den Markt zu bringen, die die Erkrankung lindern können – damit vor allem junge Menschen nicht in lange unerfreuliche Migränekarrieren rutschen. Neuerdings gibt es Elektrogeräte, die man sich an den Hals oder ins Ohr setzt. Sie stimulieren einen Nerv, der Serotonin produziert.
Was wollen Sie nach 21 Jahren Migräne-Liga noch erreichen?
Die Patienten sind heutzutage besser informiert und müssen sich nicht mehr verstecken. Wir wollen, dass auch die Politik uns ernster nimmt und die Ärzte besser aus- und fortbildet.
Bundesweit gibt es rund 100 Selbsthilfegruppen – warum keine einzige in Potsdam bzw. in Brandenburg?
Wir haben häufig in den Städten eine Handvoll Interessierter – aber keinen, der die Verantwortung übernimmt. Wir hoffen, dass durch das Symposium in Potsdam wieder eine Gruppe entsteht. Ich wünsche mir, dass heute Abend der Saal brummt.
Das Gespräch führte Isabel Fannrich-Lautenschläger
ZUR PERSON: Lucia Gnant (64) ist Präsidentin der Migräne-Liga Deutschland. Die selbstständige Kauffrau ist selbst Betroffene und hat in Bautzen und Heidelberg Selbsthilfegruppen gegründet.
Isabel Fannrich-Lautenschläger
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