
© Manfred Thomas
Landeshauptstadt: Mit 300 PS über den Jungfernsee
Jörg Leonhardt ist mit seinem Speedboot „Hoppetosse“ zu Gast an der Marina am Tiefen See. Er bietet kostenlose Kurztouren für Kinder und Jugendliche mit Behinderung an
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Pünktlich um 10 Uhr wichen gestern die Regenwolken. Zum Glück: Denn die ersten Kinder standen samt knallorangenen Schwimmwesten schon aufgeregt am Havelufer. Von ihrer Betreuerin erhielten sie noch letzte Anweisungen auf Gebärdensprache – sie sollen aufpassen und Abstand zum Wasser halten. Die hörgeschädigten Kinder sind aber nur bedingt aufmerksam, denn jetzt wollen sie nur eins: ganz schnell über den Jungfernsee brausen.
Jörg Leonhardt wartet schon in seinem Speedboot, die Kinder klettern hinein und düsen eine halbe Stunde lang rasant den Tiefen See hoch bis in den Jungfernsee, geben dort noch einmal richtig Gas und schippern wieder zurück. Das Ziel: Die Kinder sollen ein paar Momente lang ihren teils mühsamen Alltag und alle Einschränkungen vergessen.
Der Behindertenbeauftragte der Stadt Potsdam, Christoph Richter, sprach bei seiner kurzen Eröffnungsrede von einem unvergesslichen Abenteuer für die Kinder. Verantwortlich für die erfolgreiche Umsetzung dieses Abenteuers ist Andrea Burchardi. Sie betreibt den Yachthafen Marina am Tiefen See seit 2006. Sie kommt aus Berlin-Spandau und die ganze Familie ist nah am Wasser gebaut: Dem Vater gehörte der Potsdamer Hafen, der Bruder betreibt einen Hafen in Werder/Havel. Vor neun Jahren sei das Hafengelände Industriebrache gewesen, erzählt Burchardi. Heute sind hier ein Hafen mit über 70 Liegeplätzen und das Restaurant „Bootshaus“, eine Art Rezeption für alle, die herkommen, anlegen oder eine Weile am oder auf dem Wasser verbringen wollen.
Zwei Tage im Jahr dient der Hafen einem besonderen Zweck: Das Bootshaus wird zur Schrippen-Fabrik, hier belegen freiwillige Helfer Brote für die hungrigen Kinder, schnippeln Gemüse und füllen die Becher. Vor dem Haus liegen Schwimmwesten für alle, die Wasserwacht steht bereit, während die Kinder in den Liegestühlen im Sand liegen und warten, bis ihre Fahrt im Speedboot endlich losgeht.
2010 startete Burchardi die Aktion gemeinsam mit Jörg Leonhardt. Er, selbst im Rollstuhl, ist Vorsitzender des Vereins „Wings for Handicapped“. Er tourt ehrenamtlich durch die Republik und bietet behinderten Kindern die Gelegenheit zu einer Fahrt. Für sein Engagement wurde er bereits mit dem Hessischen Verdienstorden ausgezeichnet, nun ist er in Potsdam. In seinem Rennboot, der „Hoppetosse“, benannt nach Pippi Langstrumpfs Abenteuerschiff, haben gut 15 Kinder Platz. Notfalls auch 20, jeder darf mit.
Burchardi und Leonhardt lernten sich auf einer Bootsmesse in Potsdam kennen und führen nun jährlich die Veranstaltung durch – außer im vergangenen Jahr, da musste die Bootstour der Fußballweltmeisterschaft weichen. Erst fand das Event an einem Tag, und heute, da die Zahl der Interessierten immer größer geworden ist, an zwei Tagen statt.
Rund 500 Kinder aus Potsdam und Umgebung kommen gestaffelt zur Marina – je nachdem, für welche Uhrzeit sie sich angemeldet haben. Oft melden sich ganze Schulklassen an, etwa von der Potsdamer Wilhelm-von-Türk-Schule für Hörgeschädigte. Die Betreuer kommen gerne, um den Kindern mithilfe des 300-PS-starken Schnellbootes ein paar Momente Unbeschwertheit und Spaß zu ermöglichen. Die Mutter eines geistig behinderten Mädchens, das im Rollstuhl sitzt, schwärmt nach der Fahrt: „Sie saß auf meinem Schoß und ihre Beine haben sich bewegt. Das heißt, dass es schön für sie war.“ Burchardi ist bei allem Spaß vor allem die Sicherheit der Kinder wichtig: „Das Tempo bestimmt der Ängstlichste an Bord. In der Regel kann es den Kindern aber nicht schnell genug gehen.“
Sie hat zahlreiche Helfer und Sponsoren, die sie unterstützen – die Veranstaltung wird nur durch Geld- und Sachspenden finanziert. Burchadi organisiert alles mit viel Engagement – auch die Schnellfahrgenehmigung hat sie für den Tag eingeholt. Das Konzept hat Erfolg: Auf die Frage, ob sie nächstes Jahr wiederkommt, nickt ein Mädchen mit Down-Syndrom eifrig. Die Fahrt habe ihr großen Spaß gemacht. Das Vergnügen kostet nichts, Anmeldungen sind ratsam und Spenden erwünscht. Die Fahrten finden heute noch bis 18 Uhr statt.
Rita Orschiedt
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