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Potsdamer Geisteswissenschaftler diskutieren die Rolle ihrer Disziplin
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„Wir verkaufen uns unter Wert.“ So schätzt der Potsdamer Literaturwissenschaftler Ottmar Ette die aktuelle Lage der Geisteswissenschaften ein. Im Jahr der Geisteswissenschaften sieht nicht nur er seine Disziplin vor neuen Herausforderungen. „Es gibt einen wohlverdienten Niedergang der Geisteswissenschaften“, pflichtete ihm der Potsdamer Philosophieprofessor Christoph Menke bei einer Podiumsdiskussion bei.
Auf der Veranstaltung „ÜberLeben im Jahr der Geisteswissenschaften“ diskutierten Wissenschaftler, Autoren und ein interessiertes Publikum über die gegenwärtige Rolle der Geisteswissenschaften. Grundlage der Diskussion bildete eine von Prof. Ette in der Tübinger Zeitschrift „Lendemains“ veröffentlichte Programmschrift. Die These des Philologen: Der Begriff des Lebens sollte im Zentrum von literatur- und geisteswissenschaftlicher Forschung stehen. Gerade diese Einsicht sei in Vergessenheit geraten. Die medizinisch geprägten Biowissenschaften hätten auf Kosten der Geisteswissenschaften von diesem Defizit profitieren können. „Die Lebenswissenschaften haben die Bühne des Lebens besetzt.“ Ette kritisierte, dass in der öffentlichen Wahrnehmung ausgerechnet die Geisteswissenschaften oft als lebensfremd gelten.
„Literatur ist ein Experiment mit dem Leben“, sagte Ette in der Präsentation seiner Programmschrift. Und er nannte ein einprägsames Bild für diese Tatsache: Den Brief, den die junge kubanische Schriftstellerin Juana Borrero am 11. Januar 1896 an ihren Geliebten schrieb. Mit ihrem eigenen Blut. Mit Blut und Tränen auf dem Papier habe diese Autorin gezeigt, wie eng Schreiben und Leben verknüpft sind, so Ette.
Mit dem Brief habe die Tochter eines Arztes bewusst eine medizinische und eine künstlerische Sicht auf ihr Leben miteinander verknüpfen wollen. Somit stand der Brief Juana Borreros auch für die Forderung, das Leben nicht nur als ein medizinisches Phänomen zu betrachten. Prof. Ette kritisierte, dass der Begriff der medizinischen und biologischen Lebenswissenschaften trügerisch sei. So erinnerte er daran, dass das offizielle Jahr der Lebenswissenschaften, das im Jahr 2001 stattfand, einen jähen Einschnitt erfuhr. Am 11. September 2001 zeigten die Terroranschläge in den USA, dass kulturelle Probleme ebenso drängen, wie naturwissenschaftliche.
Ein vollständiger Lebensbegriff fragt immer nach der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens. Dies wusste auch die Kubanerin Juana Borrero. Mit ihrem blutigen Brief wollte sie den Geliebten davon abhalten, in den Krieg zu ziehen. Christoph Menke ergänzte Prof. Ettes Überlegungen aus philosophischer Sicht. So habe die jüdische Philosophin Hannah Arendt erkannt, wie wichtig es sei, ein Menschenbild jenseits des Biologischen zu haben. Man müsse, so forderte Hannah Arendt, auch das „Leben des Geistes“ begreifen können. Der Begriff des Geistes, erläuterte Menke, betone grundsätzlich die Freiheit. Die Freiheit, überlegt zu handeln und die Mitmenschen zu respektieren. Dies sei ein Verhalten, das die Biowissenschaften nicht ausreichend erforschen könnten. Wenn die Biowissenschaften eine einseitige Vorbildfunktion übernähmen, müssten sie als Ideologie kritisiert werden, meinte Prof. Menke. Ottmar Ette ergänzte diese Sicht mit einem Beispiel: Medizin und Biotechnologie würden uns in den Medien eine bessere Zukunft versprechen. Doch in dieser rosigen Zukunft gäbe es offenbar keine kulturellen Konflikte, gab der Professor für französische und spanische Literatur ironisch zu bedenken. „Eine interessante Fiktion: in dieser Zukunft sprechen alle dieselbe Sprache.“
Emine Sevgi Özdamar weiß, dass Menschen selten die selbe Sprache sprechen. Die vielfach ausgezeichnete Autorin ergänzte die wissenschaftliche Theorie mit einer beeindruckenden Lesung. Ihr Schreiben siedelt sich zwischen West und Ost, zwischen Deutschland und der Türkei an: im Jahr 1965 kam sie aus der Türkei in das damalige Westberlin. In den folgenden Jahren prägten die Studentenunruhen in Deutschland und in der Türkei ihre Weltsicht. So wurden auch für sie Leben und Zusammenleben zu wichtigen Themen. „Ich kann mit meinem Schreiben die Toten zum Leben erwecken“, sagte sie den PNN. So etwa den erschossenen Studenten Benno Ohnesorg und Opfer von politischer Unterdrückung.
Sie habe sich unter den Wissenschaftlern gut aufgehoben gefühlt, sagte Emine Sevgi Özdamar. Doch schien es, als habe sie auch vor zu viel ernster Theorie warnen wollen. Sie las aus ihrem Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“. In dem Abschnitt kehrt eine junge, politisierte Türkin aus Deutschland in die Heimat zurück. Sie möchte die armen Bauern treffen, Marx und Lenin im Gepäck. Nicht nur predigt die Protagonistin im türkischen Hinterland die sexuelle Befreiung. Eines Tages gerät ihre Lenin-Ausgabe abhanden. Die Theorie trifft das Leben: Ein Esel hat das Buch gefressen.
Mark Minnes
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