zum Hauptinhalt
Neue Lebensziele: Gisela Wagner im Tonstudio von Ruben Wittchow (l.).

© A. Klaer

Von Heike Kampe: Mit Lyrik gegen Sucht

Sozialprojekt: Trockene Alkoholiker aus Potsdam produzieren eine CD mit eigenen Texten und Gedichtcollagen / 55 Menschen seit 2009 betreut

Stand:

Gisela Wagner hat die Kopfhörer aufgesetzt. Konzentriert blickt sie auf das Blatt Papier, auf dem ihr Text steht. Dann spricht sie ins Mikrofon. „Ich lief fast ziellos durch mein Leben und wollte allen alles geben“, beginnt sie. Ihre Stimme ist tief und rau. „Lebensziele“ heißt das Gedicht, und Gisela Wagner hat es selbst verfasst. Die 54-Jährige ist Mitglied einer Gruppe von 13 trockenen Alkoholkranken, die im Tonstudio des Potsdamer Musikers Ruben Wittchow im „Atelierhaus Scholle 51“ in der Geschwister-Scholl-Straße eine CD mit eigenen Texten aufnimmt.

„Glas-Klar“ heißt das Projekt, das zu einer von der Potsdamer Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (PAGA) finanzierten Integrationsmaßnahme für Suchtkranke gehört und Ende Oktober zunächst mit einer vorsichtigen Annäherung an die Literatur begann. „Erst standen die Teilnehmer dem Thema sehr skeptisch gegenüber“, erzählt Sozialarbeiter Jens Burkhardt-Plyckhahn vom Euro Train Potsdam Schulungszentrum, der die Gruppe begleitet und betreut. Doch nach und nach legten sie die anfängliche Scheu ab, experimentierten zunächst mit Gedichten anderer Autoren, die sie neu ordneten und zu Collagen zusammensetzten. Schließlich dichteten sie sogar selbst.

„Was kann ich, woher komme ich, wohin gehe ich?“ – die Arbeit an den eigenen Texten helfe, diese Fragen zu beantworten, das eigene Leben zu reflektieren, erklärt Jens Burkhardt-Plyckhahn. Sich der eigenen Fähigkeiten bewusst werden, Selbstvertrauen aufzubauen – dies seien die ersten Schritte, um wieder ein normales Leben in der Gesellschaft führen zu können und einen Arbeitsplatz zu finden. Dabei müsse darauf geachtet werden, welche Qualitäten und Kenntnisse jeder Einzelne mitbringe.

„Die Menschen, die an dieser Maßnahme teilnehmen, wollen wirklich etwas“, sagt Projektleiterin Yvonne Klabuhn vom Euro Train Potsdam Schulungszentrum. Alle hätten eine erfolgreiche Entziehungskur hinter sich gebracht und seien sehr motiviert. Jeden Morgen kommen die Suchtkranken, die über Drogenberatungsstellen, Kliniken und teilweise auch über die PAGA vermittelt werden, ins Schulungszentrum in der Straße Am Kanal, frühstücken, besprechen den Tag, arbeiten an Projekten. Kopf-, Logik- und Bewerbungstraining stehen auf dem täglichen Programm. Neben beruflichen Qualifikationen lernen die Teilnehmer, einen geregelten Tagesablauf zu führen, sich mitzuteilen, Absprachen einzuhalten, eine Arbeit zu planen und auszuführen. Jeder kann etwa ein Jahr lang bleiben.

Seit zwei Jahren arbeitet Yvonne Klabuhn mit dem Programm für Suchtkranke. „Es war klar, in Potsdam muss etwas passieren, da das Suchtproblem riesengroß ist“, so Klabuhn. Daraufhin hätten sich die Suchtberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt, das Sozialamt, die Arbeitsgemeinschaft Sucht und etliche andere Träger zusammengesetzt und ein Programm entworfen, das dann im Januar 2009 startete. Den Menschen wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben – dies sei das große Ziel, so Yvonne Klabuhn. Etwa 55 Menschen wurden bisher betreut. Zehn konnten anschließend in ein festes Arbeitsverhältnis oder in Minijobs vermittelt werden.

„Wenn die Menschen in ihren Texten erzählen, was sie erlebt haben, dann beeindruckt mich das besonders“, sagt der Musiker Ruben Wittchow, der vor dem Bildschirm seines Computers sitzt, die Software für die Aufnahme der Texte bedient und über das Mikrofon Anweisungen gibt. Später wird er die Aufnahmen mit seiner Musik untermalen. „Ich werde mich inspirieren lassen“, so Wittchow.

Ungewohnt und aufregend sei es, den eigenen Text im Tonstudio zu lesen, erzählt Gisela Wagner. In ihren „Lebenszielen“ verarbeitet sie die eigene Vergangenheit. Abends hätte sie sich zu Hause hingesetzt und nachgedacht. Dabei sei dann das Gedicht entstanden. Durch den Alkohol sei in ihrem Leben einiges „den Bach herunter gegangen“, so Wagner.

Vor acht Jahren begann ihre Sucht. Die Eltern, zu denen sie ein sehr inniges Verhältnis gehabt und die sie gepflegt hatte, starben kurz nacheinander. Die drei Töchter waren aus dem Haus, von ihrem Mann war sie schon lange geschieden. Der einzige Ausweg aus der Einsamkeit, die sie nicht aushielt, schien der Alkohol zu sein. Vor drei Jahren dann zog sie die Notbremse: „Es geht nicht mehr, jetzt ist Schluss“, hat sie sich gesagt. Seit zwei Jahren ist Gisela Wagner trocken. „Jetzt kann ich wieder auf die Straße gehen, ohne mich zu schämen“, sagt sie. In ihrem Gedicht heißt es: „Heute seh’ ich alles klar, bin im Leben wieder da“.

Heike Kampe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })