Landeshauptstadt: Mit Messer gegen die Schweizer
Hat der Glücksbringer aus dem Seminaris-Hotel die Ukraine ins WM-Viertelfinale gebracht?
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Es war nicht die Hand Gottes, es war ein Schweizer Taschenmesser, das den Ukrainern am Montagabend zum Sieg gegen die Schweizer Nationalelf verhalf. Davon ist Hartmut Pirl überzeugt. Dafür, dass die ukrainischen Fußballer gewinnen, hat der Chef des Seminaris-Seehotels sogar seinen Freund verraten – einen gebürtigen Schweizer, der ihm noch zu DDR-Zeiten sein Offiziersmesser geschenkt hatte. „20 Jahre hatte ich es schon“, sagt Pirl. Doch am Abend bevor seine „Hausmannschaft“ zum Spiel nach Köln aufbrach, hat er es deren Manager Oleg Taradayn geschenkt – als Glücksbringer. Und als sich die Spieler im Kölner Stadion aufwärmten, saß Taradayn dort bereits auf der Bank, vermutlich mit dem Schweizer Glücksmesser in der Hosentasche. Dem Potsdamer Hotelier hatte er versprochen, es während des gesamten Spiels bei sich zu tragen.
Im Hotel ist Hartmut Pirl schon vor dem Anpfiff um 21 Uhr nicht mehr ansprechbar: „Ich muss die Aufstellung gucken“, sagt er und verschwindet Richtung Bar, wo ein Bildschirm an der Wand hängt. Unterdessen hat auch Küchen-Souschef Jens Lincke den Fernseher in seinem Gewürzregal angeschaltet. Um diese Zeit nimmt er nur noch vereinzelte Bestellungen entgegen. Fish and Chips möchte jemand – von der internationalen Fußball-Speisekarte. Und während Lincke den Fisch nach englischer Manier in die Friteuse schmeißt, beginnt das Spiel. In diesem Moment hat Lincke keinen Blick mehr für das Kabeljaufilet und selbst Spülfrau Sieglinde Dessner starrt auf die kleinen Männer in Gelb, die eingerahmt von riesigen Pfefferdosen dem Ball hinterherhetzen. Den Tellerstapel in ihren Händen scheint sie vergessen zu haben. Schließlich geht es um ihre Mannschaft, ihre Gäste. „Wir wollen alle, dass sie noch bleiben“, sagt Lincke, dessen Herz eigentlich für die deutsche Mannschaft schlägt. An seine Kochjacke hat er sich schwarz-rot-goldene Knöpfe genäht.
Doch die Zeit mit den Ukrainern sei schon etwas Besonderes, vor allem wegen der beiden Köche, die sie aus der Heimat mitgebracht haben. Da lerne selbst er noch ein paar neue Küchenkniffe, zum Beispiel Fisch mit Zwiebeln, Sellerie und Möhren zu kochen. Bei der Verständigung helfen die wenigen Fachbegriffe, die das gesamte Seminaris-Personal fünf Wochen vor der Ankunft der Sportler gelernt hat und „unsere Hände und Füße“, so Lincke. Seine ukrainischen Kollegen haben derweil schon Feierabend und sehen sich das Match im Versammlungsraum an – dort, wo sonst Cheftrainer Oleg Blochin mit seinem Team die Taktik bespricht.
Die beiden Köche verlassen den Raum mit der großen Leinwand bis zum Sieg ihrer Mannschaft nicht mehr. Auch Hoteldirektor Pirl steigt nur noch von seinem Barhocker vor dem Fernseher, um auf die Toilette zu gehen. Und für den Kontroll-Rundgang durch das Hotel. Doch der führt vorbei an der Leinwand in der Lobby und den Fernsehern in Küche und Rezeption. Dort schreit Anika Bast gerade: „Au, Au, Au, Auweia“, als ein Schweizer Fußballer aufs Tor zielt. „Oh!“, der russischstämmige Wachmann lacht erleichtert. „Balken“, sagt er – froh, dass der Schweizer nur die Latte getroffen hat.
Er steht neben der Rezeption direkt vor dem flimmernden Bildschirm und lässt sich von seinem Vorgesetzten erst zum Weiterarbeiten bewegen, als der ihm verspricht, über Funk Bescheid zu geben, wenn ein Tor fällt. Doch auf das hoffen alle im Hotel zunächst vergebens. Lincke als echter Fußballfan analysiert: „Das ist nur taktisches Geplänkel.“ Doch Anika Bast und ihr Kollege Stojan Aberspach an der Rezeption sind mit so viel Herzblut dabei, dass sie trotz Feierabend nicht nach Hause gehen. Nachdem Matthias Dittmann den Nachtdienst übernommen hat, stehen sie zu dritt hinterm Empfangstresen, leiden mit den Ukrainern auf dem Spielfeld. Nebenbei verabschieden sie einige Gäste – nicht ohne sie über den aktuellen Spielstand zu informieren. Um 23.30 Uhr könnte auch Koch Lincke schon zu Hause sein. Stattdessen sitzt noch immer in Kochmontur auf der mittlerweile blank geputzten Stahlarbeitsplatte und sieht sich die torlose Verlängerung an – allein und in Ruhe. „Außerdem müsste ich mich umziehen, wenn ich bei den Gästen in der Lobby gucken würde“, und dafür fehle ihm jetzt die Zeit. Denn jetzt wird“s ernst: Elfmeter. Selbst die Tagungsgäste stehen nun in der Lobby, rufen „Viva Ukraina“, klatschen Applaus und jubeln mit dem Personal, als der 3:0-Sieg feststeht.
Endlich erscheinen auch die Köche in der Lobby – sogar Lincke, immer noch in Arbeitskleidung. Nur Hartmut Pirl ist auf einmal ganz still an seinem Platz an der Bar, strahlt und wischt sich mit der Hand über die Augen.
Juliane Wedemeyer
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