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Germanist Reinhart Meyer-Kalkus über die Krise des Mitleids, die Medien und Folgen der Mobilität
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Germanist Reinhart Meyer-Kalkus über die Krise des Mitleids, die Medien und Folgen der Mobilität Welche Rolle das Mitgefühl in unserer medialisierten Wahrnehmung noch spielt war eine der Frage einer wissenschaftliche Konferenz am vergangenen Wochenende im Einstein Forum. Haben wir es vielleicht sogar mit einer Krise des Mitleids zu tun? Die PNN sprachen mit Dr. Reinhart Meyer-Kalkus, der auf der Tagung den Bogen von Aristoteles über Lessing bis in die Gegenwart spannte. Durch die Medien hat sich unsere Bereitschaft zum Mitgefühl verändert. Haben wir nun eine Inflation an Mitleid oder stumpfen wir eher ab? Wir erleben derzeit eine Gleichzeitigkeit von ganz unterschiedlichen emotionalen Reaktionen. Zum einen gibt es eine öffentliche Kultur der Empathie, die gerade durch die Medien verbreitet wird, etwa mit Charity-Shows zugunsten Afrikas, mit Beileidstelegrammen und Gedenkveranstaltungen. Auf der anderen Seite sind wir konfrontiert mit Bildern des Schreckens und massenhaften Sterbens, demgegenüber Mitleid nicht mehr die angemessene Reaktion zu sein scheint. Bilder des so genannten „wars on terror“ erzeugen in uns Angst, Furcht, Entsetzen und Widerwillen. Das Mitleid, das ja immer einer bestimmten Person in unverschuldetem Unglück gilt, ist hier überfordert. Wir leben in einer Welt, die durch diese widersprüchlichen Ansprüche an unser Gefühlsleben bestimmt ist. Es gibt aber auch ein Interesse an den Bildern der Gewalt. Man könnte es „Gräuellüsternheit“ nennen. Sie wird durch bestimmte mediale Techniken regelrecht erzeugt. Entscheidende Dinge werden dem Auge vorenthalten, von denen wir aber wissen, dass sie existieren. Es ist gerade der Mangel zu sehen, der dieses Begehren immer wieder stimuliert: die Kamera lenkt von dem Schrecklichsten schnell weg oder es folgt ein Schnitt. Das Auge möchte aber mehr sehen. Wie sollten wir darauf reagieren? Bilder können vielleicht gar nicht durch andere Bilder aufgeklärt werden, sondern nur durch Sprache, Worte und Argumente. Indem wir darüber sprechen und uns miteinander verständigen, kann der Bann der Bilder gelöst werden. Wir erleben aber, dass in dem Maße wie diese Bilder uns immer näher rücken und auch in der Politik eine immer größere Rolle spielen, zugleich der politische Diskurs immer sprachloser wird. Eine andere Möglichkeit wäre, uns mit Stoizismus gegen diesen Schocks der Bilder zu wappnen und dagegen abzustumpfen. Was man in gewissem Maße schon tut. Jeder Zuschauer der Fernsehnachrichten muss in gewisser Weise eine dicke Haut für den allabendlichen Gebrauch entwickeln, oder man zappt zu anderen Bildern über. Doch ist die Welt der Medien eben nicht alles. Es gibt Situationen, denen gegenüber Mitleid die angemessene Form ist. Und vor allem: es gibt Situationen, wo uns dieses ganz unvermutet trifft, wo wir ihm hilflos ausgeliefert sind. „Der Mitleidigste Mensch ist der beste, zu allen gesellschaftlichen Tugenden aufgelegteste Mensch“, schrieb Lessing. Das war der Anspruch der Aufklärung: Mitleid nicht nur mit Familienmitgliedern und Freunden zu haben sondern mit Menschen anderer Kulturen, egal wo sie auf der Welt leben. Dieser universelle Anspruch – sollte der nicht auch für uns noch verpflichtend sein? Wie können wir uns für Mitleid bereit halten? Unsere politische Kultur kann uns leicht zum Zynismus verführen. Wir durchschauen vielleicht, dass die alltäglichen Schreckensbilder dazu dienen, uns auf die Allgegenwärtigkeit des Schrecklichen auch in unserer Nahwelt vorzubereiten und unsere Zustimmungsbereitschaft zu politischen und administrativen Maßnahmen zu wecken. Angst und Gehorsamsbereitschaft sind schon immer zusammengegangen. Andererseits wissen wir nicht, wer die Bilder, die an unser Mitleiden appellieren, geschnitten hat, mit welchen Interessen und Absichten. Und wir wissen ebenso wenig, ob das zur Schau gestellte Elend nicht theatralisch in Szene gesetzt worden ist. Man könnte dagegen mit Zynismus reagieren. „Mitleid – nein danke!“ wie Adolf Muschg kürzlich gesagt hat. Ich meine allerdings, dass es tatsächlich immer wieder Umstände gibt, die unser Mitleid wecken. Wir haben auch Beispiele dafür im öffentlichen Leben, dass Menschen zum Mitleid bereit sind, etwa in Spendenaufrufen und praktischem Verhalten – denken Sie nur an die Hilfswerke der Kirchen und freier Träger in der ganzen Welt mit ihrer bewunderungswürdigen Arbeit. Verliert das Mitleiden mit räumlicher Entfernung nicht an Kraft? Heute sind wir als Fernreisende auch in der Lage in den Sudan oder nach Mali zu reisen. Wenn man dort gewesen ist und plötzlich Bilder einer Katastrophe dort sieht, hat dies eine ganz andere Resonanz zur Folge. Der Massentourismus hat aber nicht den Sudan zum Ziel. Indem sich die Entfernung durch unsere Mobilität, durch Tourismus unter anderem verändert, verändert sich auch der Charakter des Mitleids. Die Kritik am Fern-Mitleid relativiert sich. Der Philosoph Gehlen hat einmal gesagt, Mitleid sei eine Haus-Moral, also für den Hausgebrauch, für Familie und Freunde bestimmt. Wenn man es in die Ferne richte, dann überstrapaziere man es. Heute gibt es gute Gründe, dies nicht mehr als letzte Auskunft gelten zu lassen. Das Gespräch führte Jan Kixmüller
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