SAMSTAGScocktail: Mittlere Jahre
Wenn er könnte, hat einmal ein knapp Vierzigjähriger zu mir gesagt, würde er die mittleren Jahre gern überspringen. Einfach eine Abkürzung nehmen, wenn das in Bezug auf die Lebenszeit möglich wäre, und die umständliche, lärmige Zeit des ständigen Auftrumpfens auslassen, um sogleich ins Seniorendasein zu gelangen.
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Wenn er könnte, hat einmal ein knapp Vierzigjähriger zu mir gesagt, würde er die mittleren Jahre gern überspringen. Einfach eine Abkürzung nehmen, wenn das in Bezug auf die Lebenszeit möglich wäre, und die umständliche, lärmige Zeit des ständigen Auftrumpfens auslassen, um sogleich ins Seniorendasein zu gelangen. Dann könnte er zu Recht und guten Gewissens so dasitzen wie wir es jetzt, sozusagen probeweise und ein Vierteljahrhundert zu früh, auf der Terrasse des Cafés einer Seniorenresidenz tun. Residenzen und Quartiere. Neidvoll und ein wenig verschämt sitzen wir da, mit Blick auf vorbeischippernde Boote und Seerosen, in unserem Rücken blumenumrankte Balkone, wo auf Liegestühlen ältere Herren und Damen ein Sonnenbad nehmen. Inzwischen, heißt es, sind die besten Adressen der Stadt für einen Nachmittagskaffee die Orte, wo unter lilafarbenen Sonnenschirmen das Altern einem Urlaub gleicht. Kreta an der Havel. Hier sieht niemand dem Ende entgegen, man lässt lässig ausklingen.
Muss man sich anmelden, fragt mich der knapp Vierzigjährige. Und wenn ja, ab wann darf man es? Die Wartelisten müssen sehr lang sein. Er sieht sehnsüchtig aus. Und erschöpft. So wie man aussehen sollte, wenn man ein langes, ein sehr langes Leben hinter sich hat. Sein Anblick macht klar: Die Erschöpfung wandert. Sie verschwindet nicht einfach auf Nimmerwiedersehen aus einer Gesellschaft. Nein, sie wechselt den Ort. Jedenfalls ist sie nicht mehr zwangsläufig dort zu finden, wo das Leben seinen kunstvoll schillernden Bogen wieder in den Horizont hineinlaufen lässt. Da, wo an einem Mittwochnachmittag bei geöffneten Fenstern Tanztee ist, wie ich, leicht gehetzt, auf dem Weg in den Supermarkt registriere. Nein, die Erschöpfung, sie begegnet mir ein paar Hundert Meter weiter, in Gestalt einer Frau (ungefähr Vierzig), die mit einer Flasche Bier in der Hand auf einem künstlichen Stück Strand am Havelufer weint. Und in Gestalt des Punker-Mädchens, das in dem riesigen, wie ausgestorbenen Supermarkt eine Tomate kauft. Nichts weiter als eine einzelne kleine Tomate, die in einer Plastiktüte liegt und auf dem Förderband zittrig in Richtung Kasse transportiert wird, wo das Mädchen der Frau die abgezählten Münzen in die Hand schüttet: vierzig Cent.
Unsere Autorin lebt in Potsdam. Soeben ist ihr neuer Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“ erschienen.
Julia Schoch
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