Landeshauptstadt: Morgens zwanzig, abends achtzig
Werner Knieß und Wolfgang Hering pilgerten auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella
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Werner Knieß und Wolfgang Hering pilgerten auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella Von Ulrike Strube Menschen aus der ganzen Welt sind unterwegs. Englisch, Französisch, Spanisch vermischen sich, werden Eins. Nation, Rasse und Geschlecht spielen keine Rolle. Alle, ob jung oder alt, vereint der Wille, nach Santiago de Compostella zu pilgern. Manche begeben sich aus religiösen Motiven auf den beschwerlichen Weg. Andere, um Antworten auf Fragen zu finden, die das Leben stellt. Unter den wohl 50 Menschen, die täglich ihre Wallfahrt im spanischen Pamplona beginnen, waren in diesem Frühjahr auch der Potsdamer Physiker Werner Knieß mit seinem Freund Wolfgang Hering, dem ehemaligen Gemeindepfarrer von Sankt Nikolai. Am 16. Mai nahmen sie Abschied von ihren Frauen und brachen auf ins ungewisse Abenteuer, von dem sie fünf Wochen später wohlbehalten zurückkehren sollten. Neugier habe ihn bewegt, sagt Werner Knieß. Vor seinen Augen hatte er das Bild sich geißelnder Büßer gehabt, „die in demütiger Haltung gehen und die letzten Kilometer sogar auf Knien rutschten“. Diese Gedanken habe ihm seine Ehrfurcht vor Gott nicht verboten, erzählt der 61-Jährige. Er selbst hatte die Hoffnung, dass ihm das Pilgern helfe, physikalische Aufgaben zu lösen. „Und dafür musste vor allem der richtige Standpunkt gefunden werden“, sagt der Physiker. „Wie in der Literatur beschrieben bin ich als Wanderer losgegangen und als Pilger in Santiago de Compostella angekommen.“ In diesen Wochen sei man weit weg vom Alltag. Um das Reisegepäck begrenzt zu halten, wurden keine Bücher mitgenommen. Zehn Kilo trugen Knieß und sein Freund Wolfgang Hering jeweils mit sich. „Wir waren mit uns, der Umwelt, der Geschichte und den anderen Pilgern allein.“ Auf die Reise habe er sich vorbereitet, über die Geschichte und Bauwerke gelesen, doch als Wanderer habe er gar keinen Blick für solche Dinge gehabt. Pilgern kostet Kraft. Dafür sorgt allein die Regel, dass ein jeder nur einmal in einer der auf dem Weg liegenden Herberge nächtigen darf. An die 35-mal schliefen die beiden Freunde in anderen Doppel- und Drei-Stock-Betten in Räumen mit zwischen acht und 70 anderen Frauen und Männern. Der mitgeführte Ausweis berechtigte eine Nacht, von 13 bis acht Uhr, in einer Albergue (Herberge) zu bleiben. Geschlafen und gewärmt wurde sich an den mitgeführten Schlafsäcken. Zu essen gab es meistens Weißbrot mit Käse. Da weder Knieß noch sein Freund über ausreichende Spanischkenntnisse verfügen, nutzten sie für die diversen Käsesorten das spanische Wort „Queso“ und fügten für die einzelne Sorte den entsprechenden Tierlaut an: „muh, mäh und möh“ für Kuh-, Schafs- und Ziegenkäse. In manchen Herbergen gab es auch so genannte Pilgermenüs für sechs bis sieben Euro, bestehend aus Vorspeise, einem Hauptgericht beispielsweise Forelle und einem Fläschchen spanischen Weines. Der Pilgeralltag begann gegen 6.30 Uhr. Draußen dämmerte es. Morgens ging alles wunderbar. „Wir fühlten uns wie Zwanzigjährige – aber mittags wie Anfang Achtzig.“ Jeder Schritt habe wehgetan und Bücken war unmöglich. Nach drei Wochen waren die meist 25 Kilometer langen Tagestouren „nur noch“ Spaziergänge. Wie viele Pilger traten die beiden Potsdamer ihren Weg als ungeübte Wanderer an. Zwar hatten sie ein „Testpilgern“ um den Schwielowsee geplant, sind es gar angetreten und haben wegen körperlicher Beschwerden nach 25 Kilometern aufgegeben. Dennoch wollten sie diese Erfahrung nicht als Zeichen der Umkehr sehen. Die Flugtickets waren gekauft, der Flug gebucht. Der Weg musste wenigstens angetreten werden. Doch die siebenhundert Kilometer schafft nur jeder Zehnte, die anderen müssen wegen ernsthafter Probleme wie Gelenkentzündungen und Erschöpfungen vorzeitig abbrechen. Auch bekommen fast alle die Pilgerkrankheit, das heißt zwei Tage Brechdurchfall mit Fieber. Ursachen seien mangelnder Schlaf, Erschöpfung, Hitze, ungewohntes Essen und Trinken sowie „ein kleines Bakterchen“, wissen Knieß und Hering. Nach fünf Wochen erreichten die beiden Christen das Ziel: Santiago di Compostella. In der ehrwürdigen Kathedrale nahmen sie an der Messe teil. Sieben ausgewachsene Männer schwangen ein überdimensionales Weihrauchfass durch das Querschiff des Gotteshauses. Hier trafen sie viele Weggefährten wieder, mit denen sie unterwegs ein „Bon Camino!“ (Guten Weg!) ausgetauscht hatten.
Ulrike Strube
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