WEIMERS Woche: Nackte Tatsachen
Wolfram Weimer über „Menschen mit Blößenwahn“ am Heiligen See
Stand:
In dieser Woche war ich mit meinen Kindern im Park am Heiligensee.
Auf der Wiese am Hauptspazierweg zum Grünen Haus lagen sie wieder: Nacktbader. Es ist seit vielen Jahren ihre Wiese, und doch habe ich mich nie daran gewöhnt. Schon wegen der Kinder nicht. Aber auch wegen des Ortes nicht. Nacktbaden an Ostsee-Stränden, auf Sylt, am privaten Seegrundstück. Meinetwegen. Da halte ich es mit Thomas Mann: Es gibt eben „Menschen mit Blößenwahn“. Aber mitten im Schlossgarten? Umringt vom Potsdamer Touristenstrom und von Familienspaziergängern? Sagen wir es Neudeutsch: grenzwertig!
Für auswärtige Gäste ist die Szenerie schier unglaublich. Man stelle sich nur einmal Nacktscharen vor Schloss Windsor, in Versailles, am Escorial oder am Wiener Schloss Schönbrunn vor. Undenkbar. Vermutlich ist der Schlosspark von Cecilienhof der einzige in der ganzen Welt, der Nacktbader beheimatet wie anderenorts marmorne Brunnenfiguren oder Putten. Reiseveranstalter berichten zusehends von Beschwerden der Gäste, die es als Affront werten, wenn ihnen beim Besuch des berühmten Schlosses nackte Leiber entgegentapern. Als Affront empfinde ich es nicht, als unpassend aber schon. Der Neue Garten hat eine große Magie des Kulturellen. Ihn als Nacktbadestrand zu missbrauchen, hat etwas Respektloses. So wie man eine Kirche nicht barbusig, ein Theater nicht telefonierend oder eine Kunstausstellung nicht singend besucht. Nichts gegen singen, telefonieren und Barbusigkeit. Aber alles eben am rechten Ort.
Könnten sich die Nudisten nicht einen Badeanzug anziehen, nebenan die Badestelle genießen und sich mit Heinrich Heine („genau besehen, stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern“) trösten? Apropos, genau besehen. Da fallen mir doch noch zwei Dinge an der Nacktwiese auf: Erstens werden die Nacktbader immer älter und hässlicher. Und zweitens werden es seit Jahren immer weniger. Offenbar kommt Nacktbaden aus der Mode. Vielleicht erledigt sich die Sache ja von selbst.
Wolfram Weimer schreibt an dieser Stelle regelmäßig für die PNN. Unser Autor ist Chefredakteur des Magazins „Cicero“ und lebt mit seiner Familie in Potsdam
Wolfram Weimer
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